Der Biastoch-Bericht

Ein Bericht von Paul Biastoch aus Großtuchen

Haddamar (Hessen) Weihnachten 1946
Der Bericht wurde Weihnachten 1946 bzw. am 1. März 1947 verfaßt. Das Original liegt handschriftlich in deutscher Schrift vor. Kopie bei: Frau Margot Fromm Heinestraße 3 52445 Titz 1 Tel.: 02463/5965 Übertragung in die lateinische Schrift und redaktionelle Bearbeitung: Karl H. Radde Dresden

Die Russen kommen - die Polen verwalten - Flucht über die Oder - am Ziel!

Seitdem die 6. deutsche Armee bei Stalingrad abgeschnitten, die Bahnlinie Woronesch - Rostow erreicht war, und die Kaukasustruppen nur noch über die Krim den Rückzug antreten konnten, war der Krieg für uns verloren. Eine Etappe nach der anderen mußte preisgegeben werden, bis die russischen Armeen schließlich die Tore von Ostpreußen und den Weichselbogen erreicht hatten; wo sie zum letzten entscheidenden Schlag ausholten. Auch die Kurlandarmee war zu Lande abgeschnitten; woselbst unser Helmut bei einer Einheit war. In letzter Stunde war seine Einheit auf dem Wasserwege nach Gotenhafen zur Auffrischung gelandet. 2 Tage sollte er in Urlaub kommen. Die Freude war groß. Doch am nächsten Tage die Nachricht von ihm, daß der Urlaub gesperrt sei und sie zum neuen Einsatz in die Slowakei - Ziel Altfol - bereit ständen. Sofort ein schönes Paket gepackt und mit dem nächsten Zug nach Gotenhafen. 5 Uhr abends war ich bei ihm. Die Freude war groß. Am nächsten Morgen früh 5 Uhr wurden sie verladen. Kurze Freude. Bevor ich den Heimweg antrat, besichtigte ich noch meine Garnisonstadt Danzig. Danzig war von den Bombardierungen vollständig verschont geblieben; auch ahnte man die Gefahr nicht, die in Kürze drohte. Erst als ich zu Hause angelangt war, erfuhr ich, daß die Russen wiederum zum entscheidenden Schlag angesetzt hatten. Litzmannstadt, Tschenstochau und das Industriegebiet von Oberschlesien war erreicht. Ein Panzerkeil war bis zur Oder vorgestoßen. Pommern bedroht.

Heinz, der jüngste Sohn, mußte sich am 3. 2. 45 bei einer Fliegereinheit in Rostock melden. Nur bis zur nächsten Stadt Rummelsburg konnte er fahren, da die Bahnstrecke über Neustettin schon bedroht war. Er fuhr nach Bütow zurück, um über Schlawe, Köslin, Stettin nach Rostock zu gelangen. Die Heimat war in Aufregung. Wagen wurden zur Flucht fertig gemacht. Alles verpackt, versteckt oder vergraben. Die Geflüchteten aus Ostpreußen setzten sich wieder weiter nach dem Westen in Marsch. Sie rieten uns, gleich mitzukommen. Der Russe rückte immer näher. Schon hörte man, daß er einen Keil nach Norden zur Ostsee vortrieb und somit der östliche Teil der Provinz abgeschnitten wurde. Der erste Kanonendonner war von Süden vernehmbar. Die Ängstlichen ergriffen nach Westen die Flucht. Der Nachbarkreis Rummelsburg erhielt Räumungsbefehl. Die ersten feindlichen Flieger kamen. Ihr Ziel die Kreisstadt Bütow. Eine große Anzahl Bomben rasselten nieder. Mehrere Häuser versanken in Schutt und Asche. Die ersten Toten waren zu beklagen. Die Besuche wurden immer häufiger und stärker.

Ich sitze am Tische und lese. Gewaltige Detonationen in nächster Nähe. Schnell zur Tür hinaus. Noch seh ich die letzten feindlichen Flieger über Großtuchen. Gewaltige Rauchsäulen stiegen zum Himmel. Mehrere Gehöfte brannten. Großtuchen erhielt Räumungsbefehl am 3. 3. 45 bis 21 Uhr. Ich wohnte etwa 4 km abseits des Ortes. Kurz entschloß ich mich, nicht zu flüchten. Schnell setzte ich mich mit den nächsten Angehörigen, Familie Kramp und Kowalke in Verbindung, die in Großtuchen wohnten. Auch sie faßten den schweren Entschluß, nicht zu flüchten, weil unser östliches Pommern schon vom Reich abgeschnitten, daher die Flucht zwecklos war.

Doch es kam anders. Unsere anrückenden Truppen rieten zur Flucht. Ein großes Durcheinander. Abends um 6 Uhr waren sie mit dem großen Flüchtlingsstrom nach Norden geflüchtet. Bis 7 Uhr abends wartete ich vergebens. Da entschloß ich mich, ihnen mit meinem Ostarbeiter entgegenzugehen. Doch zu meiner Enttäuschung. Ihr Wagen war schon fort. Nur die Schwester von Kramp war mit ihrem Mann, wegen seinem Holzbein, zurückgeblieben.

Noch am Fluchttage starb mein Schwiegervater. Kurz faßte ich den Entschluß, ihn auch ohne Sarg nach dem Friedhof Großtuchen zu bringen, um dann die zurückgebliebene Familie Holz mit notdürftigem Gut heim zu nehmen. Um 24 Uhr nachts in Großtuchen mit der Leiche ohne Sarg im Leiterwagen vor der ersten Großtuchener Brücke angelangt, wurde ich arg enttäuscht. Pioniere waren bei der Sprengungsvorbereitung der Brücke tätig. Ich durfte nur auf eigene Gefahr hinüber. Bei der 2. Brücke dasselbe Wagnis. Doch ich kam glücklich hinüber. Auf einem Gehöft machte ich Halt. Mein Ostarbeiter und der des Nachbarn waren mir behilflich, die Leiche im Laken über die Friedhofsmauer auf den Friedhof zu bringen. Zwischen 2 anderen Gräbern wurde er mit wenig Erde bedeckt, so daß noch die Füße zu sehen waren. Wir hatten es eilig, um wieder zurück über die Brücke zu gelangen, denn sobald die letzten deutschen Truppen über die Brücke waren, sollte sie in die Luft gehen. Das Begräbnis war gesang- und klanglos geglückt. Nun galt es, die zurückgebliebene Familie Holz mitzunehmen. Die Straßen waren von zurückflutenden deutschen Fahrzeugen aller Art versperrt; doch wir erreichten seinen kleinen Hof; woselbst wir seine Habseligkeiten aufluden und dann durch die bewachten Straßen losfuhren. Vor der Mühlenbrücke machte ich halt. Ich erblickte von weitem einen großen Haufen auf der Brücke; schon wieder eine Mine. Wir fuhren zur Hauptstraße zurück, bis wir durch mehrere Hindernisse glücklich auf unserem Hof ankamen. Alles wieder abgepackt; Rauchware genug.

Am frühen Morgen kam mein Nachbar Kautz mit seiner Familie und seinen Habseligkeiten auf den Hof zu fahren. Noch warteten wir auf die Ankunft des Nachbarn Malottki. Da kam die Tochter von Malottkis mit der Nachricht, daß bei ihr die SS gekommen sei und sie zur Flucht aufforderten; anderenfalls sie erschossen würden. Schnell eilte ich zu Malottki. Er stellte den Wagen zur Flucht aus. Gegen Abend fuhr er in Richtung meines Hofes los. Im Wald ließ er den Wagen stehen und brachte die Pferde in meine Scheune. Der Feind war jetzt nicht mehr weit. Die ersten Granaten pfiffen über unser Gehöft. Maschinen- und Gewehrfeuer waren deutlich zu hören. In Feindrichtung loderte das Feuer der Nachbarhöfe zum nächtlichen Himmel empor.

Die ersten deutschen Soldaten näherten sich dem Gehöft. Ein Ritterkreuzträger richtete bei uns seinen Infanteriegefechtsstand auf. 2 Kompanien bezogen auf dem Gehöft Quartier. Kurz gegessen und in Abwehrstellung gegangen. Mitternacht plötzlicher Befehl zum Abrücken. Nun standen wir ohne Schutz da. Am nächsten Tage wurde bis abends noch Widerstand geleistet. Flieger kreisten den ganzen Tag um uns. Es wurde um unseren Verkehrsknotenpunkt Großtuchen erbittert gekämpft. 3 Panzer und 2 Flieger wurden abgeschossen. In einem etwa 200 m seitlich gelegenem Unterstand hatten die Familienangehörigen Schutz gesucht. Malottki, Kautz und ich blieben auf dem Gehöft zur Beobachtung. Pferde wurden geschirrt, Ketten der Kühe auf leichtlöslich gestellt. Ebenso die Schweinebuchten usw. Gegen Abend kamen die ängstlichen Gemüter auf den Hof, um im Keller Schutz zu suchen. Das Gewehr-, Pakfeuer usw. näherte sich immer mehr dem Gehöft. Es schien, als seien sie nur wenige 100 m von uns entfernt.

Mein Ostarbeiter (Weißrusse) stand ständig bei der Tür, um sich als Russe kenntlich zu machen, damit das Feuer eingestellt werden sollte. Wir hatten wegen seiner guten Behandlung die Gewißheit, daß er uns mit seiner Frau in Schutz nehmen würde.

Doch plötzlich gegen 22 Uhr abends verstummte das Feuer. Wir aufgeregten und ängstlichen Gemüter gingen dann in unsere Zimmer und warteten der Dinge, die da kommen würden. Der Russe kam diesen Abend nicht mehr. Am nächsten Tage gegen Mittag kam der erste Wagen mit 3 Russen und einem Ostarbeiter als Dolmetscher auf den Hof mit lautem "Hohré, 3 mal". In jeder Hand einen Revolver vor sich haltend, dazu sein Koppel mit Handgranaten bestückt. Mit hoch gehobenen Händen gingen wir ihnen entgegen. Die erste Frage, ob Pollak oder Niemzi. Den Hausflur betretend, feuerte er den ersten Schuß in die Decke. Dann betraten sie das Zimmer. Erste Forderung: Uhr, Ringe, Tabak, Wino, Wudka usw. Alles wurde bereitwillig hingegeben. Alles durchstöbert. Unsere Ostarbeiterin ausgefragt über ihre Behandlung. Doch sie gab ein gutes Zeugnis über uns aus, und so rückten sie dann bald ab.

Am nächsten Morgen mußten sich unsere Ostarbeiter bei der russischen Kommandantur melden. Ihre Abreise war anbefohlen. Sie hatten sich ein Fuhrwerk zur Abreise vom Nachbar mitgebracht. Schnell wurden ihre Sachen aufgeladen; dazu von uns Lebensmittel, Kleidung, Betten usw. Auch eines unserer Pferde ging mit. Alles ging in Eile, denn es waren wieder Russen mitgekommen. Mit weinenden Augen haben wir uns verabschiedet. Wassil winkte: "Ich besuch euch wieder", und ab fuhren sie. Nun standen wir ohne Schutz dar. Ein Russe nahm unser bestes Pferd unter Sattel und ritt zu unserem Nachbarn Jantz. Von dort sollte ich das Pferd wieder zurück nehmen. Doch es kam anders. Beim Nachbarn angelangt, ritt er weiter. 4 Russen stöberten dort alles durch. Auch ich wurde gründlich auf Waffen untersucht und mit vorgehaltener Maschinenpistole gestoßen und auf Parteizugehörigkeit ausgefragt, bis sie mich schließlich wieder losließen, um weiter in den Zimmern alles durchzustöbern. Ich glaubte schon, meine letzte Stunde hätte geschlagen. In einem Zimmer erblickte ich den Bruder meines Nachbarn und Kolberg. Ich fragte sie: "Wo ist Nachbar Jantz?" Er sagte: "Er hat sich mit seiner Frau im Fluß ins Wasser gestürzt und sie sind tot".

Darauf kam ein Russe in unser Zimmer. In einer Hand eine Jagdpatronenhülse. Zeigte sie dem Bruder des ertrunkenen Jantz. Holt aus und wirft eine Flasche an seinen Kopf. Doch er wich aus, und die Flasche flog durchs Fenster. Der Russe ging weiter. Jantz sagte: "Die schießen mich heute tot." In einem unbemerkten Augenblick verschwand ich durch die Küche; schnell über den Berg feldeinwärts. Etwa 150-200 m entfernt eröffneten sie mit der Maschinenpistole das Feuer auf mich. In tiefem Schnee raffte ich die ganze Kraft zusammen, um schnell weiter zu kommen. Sie folgten im Laufschritt und schossen immer wieder, bis ich schließlich im Wald ihren Blicken entschwinden konnte. In eiligem Tempo ging ich aus voller Brust keuchend immer weiter bis andere Russen, ein Stab, 3 Offiziere und 1 Bursche, mich wieder erblickten. Auf mich zureitend, ging ich mit hochgehobenen Händen entgegen. Ich mußte mitgehen. Der Bursche blieb zurück, während die Offiziere im Trabe weiterritten. Wieder kam uns eine russische Kolonne entgegen. Nach allem ausgefragt, wobei ich mein Alter von 58 Jahren auf Schnee schrieb, ließen sie mich laufen. Tieferschöpft ging ich nach unserem Unterstand, wo ich ein wenig ausruhte und meinem Schöpfer von Herzen dankte, daß er mich vor dem sicheren Tode bewahrt hatte.

Nun ging ich langsam durch die Waldschonung meinem Gehöft zu. Unweit erblickte ich wieder einige Russen mit einer Frau, die in Richtung auf den Unterstand gingen. Ich wartete ein Weilchen. Schon sah ich, daß sie hinter mir her waren und auch nach dem Hof steuerten, ohne mich jedoch zu bemerken. Im schnellsten Laufschritt eilte ich auf mein Gehöft (es waren nicht 100 m) und ich war in letzter Sekunde unbemerkt auf dem Heuboden verschwunden. Sonst wäre ich diesmal dem sicheren Tod geweiht gewesen. Die Frau hatte sich die Russen mitgebracht, damit sie mich erschießen sollten. Auf dem Gehöft war ich nicht zu finden. Meine Frau wurde aufgefordert, alles rauszugeben, was versteckt oder vergraben war. Sie wollten das Gehöft anstecken und meine Frau erschießen.

In ihrer Angst zeigte sie ihnen alles. Nun holten sie alles hervor. Nahmen mit, was ihnen gefiel und gingen ab. Jetzt rief mich meine Frau vom Heuboden und sagte: "Gehe schnell zu Malottkis (2 km), die sind katholisch, da kommen sie nicht." Ich eilte dort hin. Mit seinen Kindern versteckten wir uns auf dem Heuboden. Die Leiter wurde fortgenommen. Meine Frau blieb zu Hause. Um Mitternacht kommt Herr und Frau Kolberg nach meinem Gehöft und bittet meine Frau, doch aufzumachen. "Bei Nachbar Jantz ist schon was los. Alles Tote. Fritz Jantz hat sich am Boden erhängt. Seine Frau und Tochter haben sich ins Wasser gestürzt. Wir sind erschöpft." Herr und Frau Holz kamen aus Furcht mir sofort nach. Meine Frau blieb noch da. Aus Verzweiflung ging sie ebenfalls nach dem Fluß, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Als sie in den Fluten des kleinen Flusses den Tod nicht finden konnte, kroch sie fast erstarrt mit der letzten Kraft noch aus dem eisigem Element heraus. Erholte sich ein wenig. Ohne Schuh und mit letzter Kraft raffte sie sich auf und kam gänzlich naß und erfroren zu Malottkis hin, wo ich auch war. Sie nahmen sich ihrer an. Betteten sie warm ein und bald war sie wieder auf den Beinen. Erst man frühen Morgen erzählte Malottki mir, was geschehen war.

2 Tage blieben wir dort. Russen kamen, Russen gingen. Malottki war katholisch und konnte polnisch sprechen. Sie taten ihm nichts. Am 3. Tage, während die Russen da waren, kam auch Familie Kautz uns nach. Auch Kautz war in Todesgefahr. Wir gingen mit seiner Familie zu dem nächsten Gehöft, Rudnick, wo niemand mehr auf dem Hofe war. Auf dem Heuboden hielten sie sich versteckt, sobald Russen sich näherten. Verpflegt wurden sie von Malottkis aus. Jedes Haus wurde von den Russen durchwühlt. Alles aus den Schränken rausgeholt. Möbel umgeworfen. Türen waren durch umgeworfene Möbel versperrt. Nach 3 Tagen ging ich nach meinem Hof zurück. Was mußte ich erblicken: Sämtliche 9 Kühe, Sterken und Kälber waren fort. Pferde hatten sie ja gleich mitgenommen. Nur das Fohl stand noch da. Unsere Oma, Herr und Frau Kolberg waren noch da. Sie hatten alles ansehen müssen, wie sie das Vieh abtrieben.

In dem Zimmer war auch vieles umgeworfen, so daß ich von der Küchentür nicht in die Wohnstube rein konnte. Es fehlte meine Brille, die ich sonst täglich brauchte. So manches war verschwunden oder beschädigt oder zerbrochen. Ich blieb nun zu Hause. Meine Frau kam auch bald. Wir richteten alles wieder auf. Russen kamen immer wieder, doch waren sie nicht mehr so gefährlich. Sie durchwühlten mit Vorliebe die Betten, so daß wir sie schon nicht mehr fertig machten. Was ihnen gefiel, wurde mitgenommen. Von den 100 Hühnern behielten wir nur 6. Enten, Gänse und Puten waren schon längst weg. Sämtliches Korn und Heu wurde abgeholt. Auf einzelnen Gehöften war noch das Vieh. Es brüllte; denn es konnte nicht gefüttert noch gemolken werden. Ja, in manchen Fällen waren die Tiere schon krepiert. Anderes Vieh lief im Schnee herrenlos umher. Ich holte mir gleich 2 gute Kühe in den Stall, doch der Russe kam immer wieder und nahm alles mit. Nochmals holte ich mir eine gute Kuh, die sie mir dann nicht mehr nahmen. Am Bienenstand gab es immer zu tun. "Honig, Honig oder sonst kaput!" Ich mußte mitten im Winter den Bienenhonig entnehmen.

So dauerte der Russenbesuch vom 6. 3. bis 24. 4. 1945. Nach dieser Zeit mußte so manches Unheilvolle wieder gut gemacht werden. 14 Tage nach der Flucht kehrten die ersten Flüchtlinge meistens bettelarm zurück. Nur wenige hatten das Glück, mit Pferd und Wagen zurückzukommen. Mein Schwager Kramp kam zuerst mit seiner Familie auf meinen Hof. Trotzdem alles verloren, freuten wir uns doch, daß sie nun da waren. Die Familie Kowalke kam später. Die Mutter wurde auf der Flucht erschossen. Nach und nach kamen auch die anderen. Doch die Hälfte kehrte nicht zurück.

Es wurde allmählich ruhiger. Nun galt es, die gefallenen Soldaten (etwa 20) von Freund und Feind zu beerdigen, die verendeten Tiere ebenfalls vergraben. Eingebrochene Tiere mußten ebenfalls teils lebendig, teils tot aus dem durchgebrochenen Keller rausgehoben werden. 4 große Brücken waren gesprengt; darunter 2 Bahnbrücken. Sie mußten wieder hergestellt werden.

Die Eisenbahnschienen zwischen den beiden Kreisstädten Rummelsburg-Bütow, 30 km, wurden aufgenommen. Überall mußten arbeitsfähige Männer und Frauen den Russen bei der Arbeit helfen. Mädchen und Frauen wurden immer wieder vergewaltigt.

Inzwischen hatte ich auch im Fluß die Leichen meiner Nachbarn gefunden. Beide hatten sich zusammen gebunden und sich in den Fluß gestürzt. Ich zog sie mit Lehrer Brüchzig heraus und am selben Tage wurden sie auf ihrem Acker begraben. So wie mein Nachbar sind viele Bürger aus Furcht vor den Russen freiwillig durch Erschießen, Aufhängen oder Vergiften in den Tod gegangen. Andere wurden von den Russen rücksichtslos erschossen oder verschleppt. Noch heute weiß ich nicht, wo meine 5 Geschwister, die alle eine Besitzung im Kreise Bütow hatten, geblieben sind. Meinen ältesten Bruder, 67 Jahre, hatten die Russen auch mitgenommen. Doch er hatte sich beim Abrücken versteckt und so entkam er ihnen. Mein jüngster Bruder ist zuletzt in Graudenz gesehen worden. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. So sah es aus, als die Russen kamen.

Nach und nach zogen die Russen allmählich ab. Nur ihre Kommandantur blieb in Großtuchen bestehen. Ende April übernahmen die Polen die Verwaltung. Ein Grundstück nach dem anderen wurde von den Polen besetzt. Deutsche waren nur noch ihre Arbeitssklaven ohne Schutz und Recht. Bis zum 20. Juli 45 war ich noch Besitzer meines Grundstückes. Polen kamen, Polen gingen. Sie suchten sich die besten Grundstücke aus.

Es war der 21. 4. 45 *) um Mitternacht, als plötzlich an meiner Haustür gerüttelt wurde. "Herauskommen", brüllten sie. Schnell zog ich mich mit meinem Schwager Lehrer Schlösser an und wir gingen hinaus. Mit vorgehaltenen Gewehren mußten wir Hände hoch halten. Man führte uns hinter das Stallgebäude. Hier glaubten wir, daß unsere letzte Stunde geschlagen hatte. Doch nein. Zuerst schrien sie: "Wo Kanne, wo Honig?" Wir besorgten uns Kannen und gaben ihnen den Honig.

*) Offensichtlicher Schreibfehler. Es müßte der 21.7.45 gewesen sein. Im April, als der Krieg noch tobte, hatten die Polen noch keine Befugnisse zur Verhaftung. Außerdem deuten die berichteten Ereignisse (z.B. Erntearbeiten in Zerrin) auf Juli-August hin. Es dauerte nicht lange, da zogen sie ab. In der nächsten Nacht rüttelte es wieder an der Haustür. Wir mußten eiligst herauskommen. Diesmal waren es 9 Milizsoldaten, die uns ausräuchern sollten. Zunächst wurden sämtliche Zimmer durchsucht. Draußen wurde ich von 3 Milizsoldaten ergriffen und mit dem Gummiknüppel zu Boden geprügelt. Fast besinnungslos ließen sie mich dann liegen und fielen nun über meinen Schwager her, den sie weiter auf die Wiese schleppten. Dort hörte ich die Hiebe und das herzzerreißende Schreien von ihm. Ich glaubte, daß sie ihn auf der Stelle totschlagen wollten und bat den Moddrower Kommandanten, daß sie ihn nicht mehr schlagen sollten. Seine Tochter, die ebenfalls bei mir war, holte ihn auf den Hof, wo er zusammenbrach, sich aber bald erholte.

Alles wurde nochmals durchgestöbert, das Fahrrad herausgefordert. Und dann erklang eine Stimme: "Ihr seid verhaftet, mitkommen." Ich bat darum, daß ich mir die Gummistiefel anziehen durfte, und dann ging´s nach dem Dorf, wo wir alle je in einen besonderen Keller gesperrt wurden. Es war früh gegen 4 Uhr morgens. Gegen 9 Uhr vormittags erschien der polnische Kommandant. Ich wurde nach allem ausgefragt. Alsdann führte er mich mit vorgehaltenem Revolver in einen Stall, wo er mich erschießen wollte, wenn ich nicht bekennen würde, wo ich was versteckt hatte. Ich sagte ihm alles. Darauf fuhren wir mit der Kutsche nach meinem Hof. Schlösser mit seiner Tochter blieben eingesperrt. 5 Milizsoldaten folgten uns. Alles durchsucht. Kleider nahmen sie mit. Eine Milchkanne mit Honig gab ich heraus. Meine Frau mußte ein gutes Frühstück machen, und zurück ging es.

Bei der polnischen Kommandantur stiegen wir ab. Der Kommandant gab noch einen zum Besten; darauf fragte er mich: "Du mußt noch Pistole haben?". Dieses verneinte ich. Er gab der Miliz Befehl, mich in den Keller zu sperren. Schuldlos war ich wieder drin. Am nächsten Morgen stand die Kutsche vor der Kommandantur. Wir wurden aus dem Keller geholt und in Bütow der polnischen Gestapo übergeben. Grund unserer Verhaftung war uns unbekannt. Vermutlich, weil wir Deutsche waren, und auf meinem Hof ein Pole ungestört alles in Empfang nehmen sollte. Die Gestapo sperrte uns ebenfalls in den Keller. Diesmal waren wir beide zusammen. Was mit der Tochter geschah, wußten wir nicht. Nach etwa einer Stunde öffnete sich die Kellertür. Ich mußte herauskommen. Sie führten mich in eine Folterkammer; warfen mich über die Bank; hielten Beine und Kopf fest. Unbarmherzig schlugen sie mich mit ihrem Gummiknüppel so sehr sie konnten. Warfen mich runter, hackten und stießen mich, wo es eben traf. Ich hatte wohl die Besinnung fast verloren. Ja, ich weiß noch, daß ich die Hosen runter ziehen mußte; ob sie dann noch gehauen haben, weiß ich nicht mehr. Ich wurde nun wieder in den Keller gebracht. Jetzt holten sie Lehrer Schlösser. Dasselbe Schicksal mußte er erleben. Wie sie ihn aus dem Keller brachten, floß das Blut in seine Stiefel. Er konnte den ersten Moment nicht reden. Als er zur Besinnung kam, sagte er: "Jetzt häng ich mich auf." Ich riet ihn davon ab. Es war ja auch kein Strang im Keller. Gegen Abend gab es wieder im Keller, doch nicht mehr so gewaltig. Die nächsten 2 Tage gab es auch noch, aber an Wucht ließ es nach. Blaue Brillen hatten wir nun beide. Schmerzen in der Brust spürte ich noch 14 Tage später.

Essen bekamen wir täglich 3 mal. Morgens Kaffee und ein Stückchen Brot so groß wie eine Faust für den ganzen Tag. Zu Mittag abgekochte Kartoffeln ohne Salz und jeglichen Zusatz. Meist noch angebrannt. Beim Essen konnte ich nun auch unseren Kreisbauernführer Heß, unseren Gastwirt Deuble, Reddies u.a. sehen. Meist mit blauen Augen, bärtigen Gesichtern, tief gesunken und abgemagert. Sprechen durften wir nicht miteinander. In den nächsten 2 Tagen waren auch der Moddrower Bürgermeister, sein Sohn, die Bauern Julius Kolberg und Skibbe eingeliefert. Beide aus Tangen. Auch diese erlebten dasselbe Schicksal.

Nach 3 Tagen wurden wir zur Arbeit herangezogen. Meistens Möbel von einem Haus ins andere tragen, aber immer "Tempo". Den Höhepunkt bildete die Ausräumung der zusammengenagelten Bettgestelle im Wirtschaftsamt Bütow. Nur ein kleiner Hammer stand uns zur Verfügung. In kürzester Zeit mußten die großen Zimmer leer sein. Mit Gewalt brachen wir die langen Bretter auseinander. Warfen sie durchs Fenster oder trugen sie zur Treppe hinunter wie ein paar Tollwütige. An jeder Ecke standen Milizsoldaten und hauten mit ihrem Gummiknüppel auf uns ein. Wer nicht Bretter genug auf dem Buckel hatte, mußte die des anderen mitnehmen. Erst gegen Abend wurden wir in unsere Keller zurück geführt. Noch hatten wir weder Frühstück noch Mittagessen bekommen. Todmüde und erschöpft bekamen wir erst abends unser Essen. Durch die Straßen mußten wir meistens mit kräftiger Stimme singen: "Polen, Polen über alles" und das Seemannslied "Denn wir fahren nach Deutschland" usw. Des Sonntags mußte unser Gastwirt Deuble, der polnisch sprechen konnte, Freiübungen mit uns machen, z.Bsp. Arme vorwärts streckt, Knie beugt usw.

Nachdem wir etwa 14 Tage in Bütow zugebracht hatten, wurden wir nach Zerrin aufs Gut zur Erntearbeit hingebracht. Hier hörte die Prügelei so ziemlich auf. Im Gutshaus waren wir mit 35 Personen beiderlei Geschlechts in 2 Zimmer untergebracht. Für gutes Strohlager auf der ganzen Fläche sorgten wir. Täglich gingen wir zur Arbeit aufs Feld. Ein Koch und zwei Mann blieben für die Küche. Ich war nur 1 ½ Tag auf dem Feld tätig. Durch anschwellende Beine und Geschwüre blieb ich für die Küche zurück. Auch mein Leidensgefährte Julius Kolberg erkrankte. Nun waren wir beide in der Küche beim Kartoffelschälen. Auch unser Gastwirt Deuble, der schon fast ½ Jahr drin saß, war nur noch ein Skelett. Kolberg sagte zu mir: "Hier kommen wir nicht mehr raus; entweder wir werden krank oder sterben." 14 Tage später wurden Deuble, Kreisbauernführer Heß sowie sein Bruder und ein Bütower Siedler nach Bütow zurück berufen. Kolberg und ich fuhren als Kranke mit. Bei der Landwirtschafts-schule machten wir Halt. Kolberg brach zusammen. 2 Tage später war er tot. Wo die andern 4 blieben, weiß ich nicht. Ich landete im Keller der Landwirtschaftsschule, wo noch mehrere drin waren. Man ließ mich in Ruhe. 3 Tage später mitternachts, die Kellertür wird geöffnet, wieder werden einige eingeliefert. Einer fragte: "Sind hier auch Großtuchener drin?" Ich er-kannte an der Stimme unsern Müller Reddies. Außerdem waren Haus und 4 Jugendliche aus Großtuchen dabei. Am nächsten Tage lernten sie ebenfalls den Gummiknüppel kennen. Mit blauen Augen kamen einige in die Zelle zurück.

Wieder vergingen 2 oder 3 Tage. Da wurde ein Russe, der in einem Dorf Bürgermeister war, in unsern Keller geliefert. Der russische Bezirkskommandant forderte von den Polen die sofortige Entlassung des russischen Bürgermeisters. Beim Verlassen unseres Kellers soll er gesagt haben: "Ich werde dafür sorgen, daß ihr auch entlassen werdet." Es verging kaum ein Tag, als der polnische Kommandant in den Keller kam und jeden einzelnen fragte, wie lange er schon eingesperrt sei und weswegen. Wir mußten unsere Sachen aufnehmen und nach dem Büro kommen, um unsere Entlassungskarten in Empfang zu nehmen. Hocherfreut hauten wir ab. Nur die 4 Jungens blieben da, denn sie waren nicht im Keller. Welch eine Fügung Gottes. Der Russe hat mich befreit. Im eiligen Tempo gingen wir die Bahnstrecke entlang nach Hau-se. Meine Frau und Oma empfingen mich mit Freudentränen.

Auch der Pole, der mein Grundstück in Besitz genommen hatte, war freundlich. Schnitt mir sofort die Haare und rasierte mich. Nun sah ich wieder wie ein Mensch aus. Ein gutes Essen wurde eingenommen; denn in den fast 5 Wochen gab es so was nicht. Sofort habe ich mich gewaschen und reine Wäsche und Kleider angezogen. Ich fühlte mich wie neugeboren, trotzdem ich körperlich sehr runtergekommen war. Von meinen Kleidern fand ich nicht viel.

Erstaunt war ich, wie ich sehen mußte, daß der Pole meine langen Stiefel angezogen hatte und einen meiner Schlipse trug. Doch ich war durch die harte Schule gegangen und ließ mir nichts merken; da ich genau wußte, sobald ich ihm lästig wurde, brauchte er der Miliz nur einen Wink zu geben, und sie holten mich wieder ab. Alles, was ich seinen Augen ablesen konnte, habe ich gemacht, denn er war, wie er sagte, ein großer Deutschenhasser. Essen durften wir bei ihm in der Küche, doch in unsere Zimmer, in denen meine Frau alles drin lassen mußte, durften wir nicht mehr kommen. Ein Zimmer mit Küche hatte er uns gelassen. Täglich haben wir dann ohne jegliche Besoldung bei ihm gearbeitet. Nur Essen bekamen wir. Es war ja noch immer von unserm. Die Bienen mußte ich ihm weiter besorgen. Über 10 Ztr. Honig hatte ich geerntet. Einen großen Teil hatten die Russen und Polen schon weggeholt. Gemeinsam habe ich dann mit meiner Frau auf dem Feld gearbeitet oder er schickte uns zu Gemeinschaftsarbeiten zu den Nachbarn, die ihm dann wieder halfen. Die Kartoffeln, von denen ich noch 5 Morgen ausgepflanzt hatte, pflügte er aus, ließ sie aufsammeln und auf Haufen schütten, ohne sie zuzudecken. In einer einzigen Nacht waren sie oben alle angefro-ren. Seine erste Prüfung hatte er dadurch bereits bestanden.

So sah es mit seiner Bewirtschaftung aus. Das alles mußte man ansehen, ohne etwas zu sagen. Im September 1945 waren fast alles Grundstücke von den Polen besetzt. Die Männer festgenommen oder eingesperrt. Mein Schwager O. Kramp, der von den Russen nach Grau-denz mitgenommen wurde und dann wegen seiner Krankheit wieder zu Fuß den Heimweg antreten durfte, wurde ebenfalls von den Polen über 5 Monate festgehalten.

Nach der Ernte mußten wir unsere Auswanderung beantragen. Wer noch dablieb, konnte binnen 2 Stunden rausgewiesen werden. Nachdem wir nun, Familie Kramp, Kowalke unsere Auswanderungspapiere vom Landrat zugestellt bekamen, durften wir am 16. 11. 1945 über die Oder auswandern. Schwer war es uns allen, unser Haus und Hof, was unsere Väter und Urgroßväter in bitterem Schweiß zusammengearbeitet hatten, stehen zu lassen, und mit dem zu flüchten, was man nur bei sich tragen konnte. Aber was half es alles. Noch einmal sahen wir alles an. Unsere Oma, 82 Jahre, konnte wegen Altersschwäche nicht mit. Sie wollte zu-rückbleiben. Der Pole machte auch weiter keine Einwendung. So verließen wir am 16. 11. 45 mit weinenden Augen unseren Hof. Der Pole hatte in diesem Augenblick ein wenig Mitleid und fuhr uns nach Bütow zur Bahn. Hier versammelten wir uns mit Familie Kramp, Familie Kowalke, Familie Trapp, Zemmen, und Familie Knopp, Bütow. Mit unsern Habseligkeiten kamen wir gut durch die Sperre.

Um 7 Uhr setzte sich unser Zug in Bewegung. Eine Stunde später waren wir in Lippusch angelangt. Erst um 2 Uhr früh ging der Zug weiter nach Konitz. Mitternacht hat die Bahn-hofswache uns Männer einzeln mit unserm Gepäck etwa 200 m weiter in einen Dienstraum abgeführt. Nach unserer Parteizugehörigkeit ausgefragt. Ein Leugnen gab es nicht; denn sie hatten dort einen Ostarbeiter, der lange Zeit in Großtuchen war und uns zu gut kannte. Glücklicherweise gehörten wir keiner Partei an. Wir mußten unsere wenigen Habseligkeiten ausschütten. Alles wurde einzeln durchsucht.


Was ihnen gefiel, nahmen sie uns ab. Ich verlor dadurch eine Haarschneidemaschine, Schere und andere Kleinigkeiten. Alles andere raffte ich schnell wieder zusammen in den Sack. So wurden die Männer alle vernommen.

Über Konitz - Schneidemühl ging es nach Küstrin. Mit vielen Hindernissen kamen wir nach 17 stündiger Fahrt in Küstrin an. Hier blieben wir 9 Tage im Auffangslager. Kein Haus war mehr ganz. Jeder mußte sich da selbst eine Unterkunft in den zerschossenen und ausgebrannten Häusern suchen. Mit 3 Familien (10 Personen) bezogen wir eine Küche, dazu noch all unsere Sachen drin. 2 namentliche Listen aufgestellt. Diese wurden dann der deutschen Polizei nach langer Zeit endlich zur Anmeldung eingereicht.

Mit der einen, die ich wieder zurückerhielt, konnten wir unser Essen empfangen. Doch mußte man des Morgens früh um 6 Uhr für Brot und Mittag anstehen, wenn man was haben wollte. 25 - 30 000 Flüchtlinge waren im Lager. Wieder machten die Polen ihre Geschäfte. Vielen Flüchtlingen gingen unterwegs ihre Habseligkeiten verloren und sie hatten nichts mehr zu essen. Sie zahlten meistens 120 Mk für ein 3-Pfd.-Brot. Selbst meine Frau hat ein solches Brot für den Preis gekauft. So sah die polnische Verwaltung östlich der Oder aus. Am 26. 11. 45 setzte sich der 2. Transportzug aus Küstrin langsam über die notdürftig hergestellte Oderbrücke in Bewegung. Aus den einzelnen Abteilen hörte man das Lied singen "Nun ade, du mein lieb´ Heimatland".

Fast eine Woche lang lagen wir auf der Bahn, bis wir endlich auf unserm Ziel Feldberg, Kreis Stargard, Mecklenburg, ankamen. In Feldberg standen Wagen zur Abholung bereit. Mit 130 Personen kamen wir in das Gutsdorf Schlicht, 4 km von Feldberg.

In einem großen Kuhstall wurden wir alle untergebracht. Noch lag zum großen Teil der alte Dung drin. Ein jeder holte sich ein Teil Stroh und machte sich sein Lager. Durch das Dach konnte man abends die Sterne sehen; es war kalt. Der Bürgermeister hatte für warme Kartoffelsuppe gesorgt. Auch Brot gelangte zur Verteilung. In den nächsten Tagen bezogen wir mit 11 Personen ein Gutszimmer. Die ersten Tage hatten wir Gemeinschaftsverpflegung, dann bekam jeder seine Lebensmittelkarten, für die es wenig gab. Wo nun kochen? Schnell mauerte ich einen Kochherd mit 2 Kochlöchern. Doch es waren 3 Familien; dazu Aschendorf als Einzelgänger. Noch mußte ich einen Herd anbauen. Nun ging´s schon. Noch sorgte der Bürgermeister für Brot und Kartoffeln. Männer gingen meist zur Arbeit. Erst im Wald bei den Russen Holz verladen. 8 Tage lang vor dem Weihnachtsfest nachts pflügen. Na, das sah schon aus!

Zuletzt mußten Männer und Frauen ein abmontiertes Schotterwerk verladen. Aschendorf zog sich dabei eine innere Verletzung zu und starb. Weihnachten feierten wir noch beisammen ganz schlicht in "Schlicht".

Viele der Flüchtlinge verließen bald das Gutsdorf. Auch wir konnten dort nicht bleiben. Am 28. 1. 46 fuhr ein Transportzug nach Heiligenstadt bei Kassel, Endstation der russischen Zone. Hier mußten wir teils zu Fuß, teils mit Handwagen über die russisch-englische Zonengrenze, um nach dem Flüchtlingslager Friedland zu gelangen. Hier wurden wir untersucht, entlaust und registriert. Noch lag unser Ziel nicht fest. Viele Transporte gingen nach Schleswig, doch wir entschlossen uns für Haddamar, wo unsere Schwägerin Emmy Kowalke auch war.

Die nötigen Papiere zur Grenzüberschreitung mußten aus Göttingen beschafft werden. Und so fuhren wir mit all unserem Gepäck nach Kassel über Eichberg. Hier in Eichberg mußte alles aussteigen. Die Papiere wurden von den Amerikanern geprüft. Kramps und Kowalkes Papiere wurden für richtig befunden, und sie durften weiter fahren; dagegen mußten meine Frau und ich mit denselben Papieren nach Göttingen zurück. Erst nachdem ich unter den schwierigsten Verhältnissen keine anderen Papiere bekam, ließ man uns am Abend nach Kassel fahren und wir kamen dann nach Wabern, wo wir auf dem Bahnhof übernachteten. Mit dem ersten Zuge am 2. 2. 1946 gelangten wir am Bahnhof Fritzlar an. Wir warteten, denn es war noch dunkel. Unser Gepäck wurde zur Aufbewahrung aufgegeben. Und so gingen meine Frau und ich zu Fuß nach Haddamar. Bei Tante Emma, Frau Kowalke, angelangt, wurde ein wenig geruht. Erlebnisse erzählt. Nun der Weg zum Bürgermeister, der uns eine Wohnung bei Herrn Feitz zuwies; doch da wir in der kleinen Wirtschaft keine Beschäftigung hatten, gingen wir ein Haus weiter, wo wir Frau Steinmetz vor dem Kuhstall trafen.

Wir bekamen da Wohnung und blieben da. 2 Monate hatten wir hier Arbeit und Brot. Erst als ihr Bruder kam, hatten wir wenig Beschäftigung. Wir richteten dann (uns) selber unsere Küche ein. Und ich fand dauernde Beschäftigung bei dem Bauern Wilhelm Meijt. Familie Kramp fand beim Bauern Arndt Unterkunft, Arbeit und Brot. Die Kinder Kowalkes blieben bei ihrer Tante Emmy Kramp. Später kam auch ihr Vater.

Meine 2 Söhne Helmut und Heinz waren in amerikanischer Gefangenschaft. Heute sind auch sie bei mir. Ihre Beschäftigung fanden sie im Verpflegungsamt Fritzlar bei den Amerikanern.

Während wir bis hier nur Schrecken des Krieges kennengelernt hatten, fanden wir hier noch alles wie im Frieden vor. Keine Furcht mehr vor Russen und Polen, denn es sind ja Amerikaner. Alles unversehrt. Sämtliches totes und lebendes Inventar ist hier. Felder waren friedensmäßig bestellt. Aus allen Häusern strahlt elektrisches Licht entgegen. Ja, hier ist noch kein Krieg gewesen. Land und Leute haben wir hier kennengelernt. Neue Bürger sind wir hier geworden. Der Bürgermeister setzt sich für das Wohl seiner Neubürger ein. Eine wahre Heimat haben wir hier noch nicht. Die Gründe hierfür müssen wir uns noch vorenthalten. Wahre Heimat ist einzig und allein unsere Kirche, wo der Name Jesus Christus gepredigt wird.

Diese eigenen Erlebnisse habe ich nach bestem Wissen und Gewissen für mich und meine Kinder und für diejenigen, die es wissen wollen, in diesem Büchlein niedergeschrieben. Dies ist nur ein Einzelfall von den fast 10 Millionen Flüchtlingen, die ihre Heimat, Haus und Hof verlassen mußten.

Unser einzigster Wunsch und heißes Gebet zu Weihnachten ist: Gebt uns bei der bevorstehenden Friedenskonferenz unsere alte Heimat wieder. Schickt die Gefangenen heim!

Haddamar, Weihnachten 1946 P. Biastoch

Nachbemerkung zur polnischen Verwaltung:

In den ersten Tagen, als mein Schwager, der Lehrer Schlösser, und ich von der polnischen Miliz der polnischen Gestapo überliefert wurden, wurden wir beide in die Folterkammer geführt. Mein Schwager mußte sich über die Bank legen, während ich ihm 20 Hiebe mit dem Gummiknüppel aufzählen mußte. Als ich ihm 17 Hiebe gehauen hatte, entriß man mir den Gummiknüppel. Und sie zählten ihm wohl 1 Dutzend Hiebe auf, so wie sie sitzen sollten. Auch ich bekam eine Kostprobe davon. Später zeigte man mir ein Paßbild. Sie fragten mich, ob ich es sei. Ich antwortete: "Ich bin es nicht." Ein Wink, und ich mußte in die Folterkammer. 20 Hiebe zogen sie mir über. Dann fragten sie mich: "Bist du´s?" Trotzdem ich es nicht war, sagte ich: "Es ist mein Bild." Dann schlugen sie mich nicht mehr.

Wer mit gutem Anzug oder Stiefeln der polnischen Gestapo eingeliefert wurde, dem zogen sie die Kleider und Stiefel aus und gaben ihm zerlumpte und zerrissene Kleider und Schuhe. So ging es unserem Gastwirt Deuble, meinem Schwager Schlösser u.a. Auch ich ging mit einem Stiefel und einer Holzlatsche. Flicken konnten wir uns so was nicht; denn wir hatten weder Flicken noch Nadel und Zwirn. Schlafen mußten wir auf dem Zementboden. Pritschen kannte man dort nicht. Von den Läusen wurden wir übel geplagt. Wäsche konnten wir nicht waschen. Wir hatten ja auch nur ein Hemd¸ das wir anhatten. Immer wieder wurde uns gesagt: "Wir geben es den Deutschen nur zu 50 % ab, was sie an uns getan haben." So mußten wir als Deutsche unschuldig leiden. Mein Leidensgefährte Kolberg starb schon nach 4 Wochen; Gastwirt Deuble später. Lehrer Schlösser wurde halb tot entlassen. Reddies Wilhelm holten sie zum 2ten mal. Beim Abschied sagte er: "Ich muß für euch sterben." Alle aus Großtuchen. So ging es vielen anderen. Auch mir wäre es so ergangen, wenn ich nicht, wie ich eingangs erwähnt habe, durch den russischen Bürgermeister wie durch ein Wunder nach fast 5 Wochen Haft entlassen worden wäre.

Recht verstehen und empfinden kann nur derjenige es, der solches und ähnliches miterleben mußte, und diese Zahl geht in die Hunderttausende.

Haddamar, den 1. März 1947 P.B. [Paul Biastoch]

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