Quelle: Der Spiegel



 

Prolog
Die Stunde der Vergeltung

(aus Grube/Richter "Flucht und Vertreibung", Hoffmann und Campe Verlag Hamburg, 1980, Seiten 31 und 32)

Als die siegreichen sowjetischen Truppen und die sie begleitenden polnischen Verbände auf die ostdeutsche Zivilbevölkerung trafen, kam es zu Racheakten, die für die davon betroffenen Menschen alles bis dahin Erlebte in den Schatten stellten. Raub, Plünderung, Brandstiftungen, Mißhandlungen, massenhafte Vergewaltigung von Frauen und die willkürliche Tötung völlig Unschuldiger sind in einem solchen Ausmaß begangen worden, daß in der Erinnerung vieler Flüchtlinge und Vertriebener diese Ereignisse das einzig Prägende der Schicksalsjahre 1944/45 geblieben sind.

Es wäre ein vergebliches Unterfangen, die Vorgänge in Ostpreußen, Pommern, Ost-Brandenburg, Schlesien, in Böhmen und Mähren rational erklären zu wollen, dennoch sei der Versuch gewagt, Beweggründe für die oft unvorstellbaren Grausamkeiten zu finden. Goebbels' berühmte Hetz-Parole aus seiner Sportpalast-Rede vom Februar 1943: "Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!" verkehrte sich gegen das eigene Volk, das, zumeist ohne Kenntnis vom massenhaft und planmäßig betriebenen Völkermord im Osten, oft genug ahnungslos das Hereinbrechen der sowjetischen Streitkräfte erlebte. Die über die Weichsel und Oder setzende Masse der Soldaten hatte auf ihren 500 bis 700 Kilometer langen Anmarschwegen all das gesehen, was SS-Verbände und Einsatzgruppen im letzten Moment nicht mehr hatten verbergen können: neben der Taktik der "Verbrannten Erde" - also dem sinnlosen Zerstören der für die zurückbleibenden Bevölkerung notwendigen Versorgungseinrichtungen - die Opfer des Terrors und des legalisierten Mordes. Die Vernichtungsstätten des blindwütigen Ausrottungswahns wurden den nachrückenden sowjetischen Truppen während des überhasteten deutschen Rückzugs zumeist im "Urzustand" überlassen - Zeit zur Verwischung der Spuren war kaum geblieben. Die Befreiung der Lager Sobibor, Treblinka, Majdanek, Belzec, Chelmno, Stutthof und Auschwitz rief bei den meisten der Befreier - weniger bei den Befreiten - das Verlangen nach Vergeltung hervor. Fast jeder sowjetische Soldat, der die deutsche Ostgrenze überschritt, hatte Familienopfer zu beklagen - oftmals war die gesamte Familie den Ausrottungsmaßnahmen der deutschen Besatzer zum Opfer gefallen. Viele der an Frauen, Kindern und Greisen begangenen Grausamkeiten der sowjetischen Soldaten waren sicherlich auch auf die durch jeden Krieg verursachte Verrohung und Zügellosigkeit, auf den Verfall von Sitte und Moral zurückzuführen. Dennoch gab den letzten Anstoß nur allzu oft die in Soldatenzeitungen, Flugblättern und Rundfunksendungen verbreiteten Aufforderungen, Rache und Vergeltung an den Deutschen zu üben. Hinzu kommt, daß den teilweise frisch aus dem asiatischen Raum herbeigeführten Regimentern jene Haltung nicht fremd war, daß Frauen im gleichen Maße Beutestücke des Siegers sind wie Edelmetalle und Sachgüter. Hier wirkten sicherlich überkommene asiatische Verhaltensweisen und Vorstellungen nach.

Zudem trafen diese Soldaten nach Jahren des Leids und der Entbehrungen auf teilweise unzerstörte Dörfer und Städte, in denen das "normale" Leben weiterlief und die gerade deshalb zugleich Rache und Neidgefühle provozierten und zum Beutemachen unter dem Vorwand von Vergeltungsmaßnahmen verführten. Das Pendel der Gewalt schlug zurück und traf unerbittlich jene, die Symbol für Unterdrückung. Ausbeutung, Mord, ja Völkermord waren. Auch wenn meist zwischen NS-Funktionären und unschuldigen Zivilisten nicht unterschieden wurde, so muß doch das Motiv hervorgehoben werden: Hier öffnete sich ein Ventil für all das, was sich in den Jahren der Unterdrückung angestaut hatte. Die Rache traf dann alle Zurückgebliebenen.

... Dennoch gab es genügend Zeugnisse für den Mut einzelner sowjetischer und polnischer Soldaten und Zivilisten, die sich öffentlichen Rache- und Lynchfeldzügen gegen Deutsche erbittert entgegen stellten, die das unselige Treiben der teilweise zügellosen "Sieger" beenden wollten. Viele, die heute anklagen, verdanken der Besonnenheit jener Soldaten ihr Leben - es scheint immer noch notwendig, hieran zu erinnern.

Was blieb? Demütigung von Unschuldigen, Anhäufung von neuem Leid, wo altes noch nicht vergessen war. So viel Verbitterung und Schmerz, daß jegliche Verständigung über Jahrzehnte hinweg nicht möglich war und ist. Unschuldige Opfer einer verbrecherischen Politik, die im Namen Deutschlands millionenfaches Unrecht beging. Die Flucht und Vertreibung der Deutschen war eines der letzten düsteren Kapitel eines der an Greuel überreichen Krieges - doch eines dürfen wir nicht vergessen, daß Deutschland unter Hitler mit all dem begonnen hatte. "Was tun mit den Greuel, wie wird man mit ihnen fertig?" fragt Sebastian Haffner. Seine Antwort: "Aufrechnung hilft nicht weiter; Gedanken an Rache machen alles noch schlimmer. Irgendeiner muß die Seelengröße aufbringen, zu sagen: 'Es ist genug.'"