Irmgard Kramer Friedrich-Ebert-Straße 16 55593 Rüdesheim Tel. 0671-32734
Unsere Flucht vor den Russen - Vertreibung durch die Polen - Der Neubeginn im Westen
Am 3. März 1945 erhielt Großtuchen den Räumungsbefehl vor der heranrückenden Front. Bis 21 Uhr sollten alle Bewohner den Ort verlassen haben. Unsere Verwandten und Nachbarn - Otto Kramps Familie - fuhren gegen 16 Uhr mit ihrem hochbeladenen Pferdefuhrwerk ab. Es gab viele Tränen; uns saß ja die blanke Angst im Nacken.
Unsere letzte Einquartierung, die Soldaten Sommer und Winterhalter - Namen, die ich wegen ihrer Einmaligkeit bis heute behalten habe - luden unser Gepäck auf ihren Lastwagen. Sie waren unsere letzte Rettung. Mit ihnen verließen wir am Abend des 3. März unsere einst-mals sichere Bleibe. Es lag Schnee und war bitterkalt. Rundherum war der dunkle Nachthim-mel rot erhellt. Man hörte den Kanonendonner schon ziemlich nah.
Außer meiner Mutter, den Schwestern Helga und Jutta befanden sich noch Anna Dombro-wa mit 2 kleinen Kindern, ihre Schwester Liesbeth Papenfuß mit kleiner Tochter sowie ihre alten Eltern und Frau Labs auf dem Fahrzeug.
Wohin uns die Route führte, weiß ich heute nicht mehr. Das Endziel sollte wohl Gotenha-fen werden. Ein schrecklicher Gedanke für unsere Mutter. Sie wollte auf kein Schiff. Die "Wilhelm Gustloff" und viele andere Schiffe mit Tausenden von Flüchtlingen waren schon in der eiskalten Ostsee versenkt worden.
Von Pottangow, Kreis Stolp, versuchten wir, mit der Bahn weiterzukommen. Fehlanzeige, alles war total überfüllt! In Pottangow sah ich als letztes Hannelore Holz auf einem Lastwa-gen vorbeifahren. Wir winkten uns noch zu. Mit den Soldaten kamen wir bis zum Bahnhof Lauenburg. Hier hatten wir Verwandte. Sie hatten auch schon die Wohnung verlassen und befanden sich auf der Flucht. Am Tag darauf - es könnte der 7. oder 8. März gewesen sein - waren die ersten Russen in der Stadt. Die Angst- und Schreckenszeit begann; sie hielt uns lange im Griff.
Wir, das heißt Kowalkes, Dombrowas und Frau Labs, verbrachten die erste "Russennacht" im Stadtzentrum, saßen zusammengekauert in einem kleinen Zimmer. An Schlaf war nicht zu denken. Es brannte ringsherum, Schüsse krachten die ganze Nacht, und betrunkene Soldaten grölten.
Bei Tagesanbruch faßten wir den Entschluß - nur raus aus dem Inferno und irgendwo am Stadtrand eine Unterkunft suchen! Dieses Vorhaben gelang uns auch. Wie durch ein Wunder kamen wir unbehelligt davon. Was sich uns aber auf der Straße bot, war schrecklich. Überall tote Menschen, zertrümmerte Schaufenster¸ plündernde Soldaten und Brände an allen Ecken. Die russischen Soldaten verlangten: "Uhri, Uhri". Sie waren damit behängt wie Weihnachts-bäume.
In einer Neubausiedlung fanden wir 12 Großtuchener Unterschlupf. Die Eigentümer waren geflohen. Es befanden sich noch weitere Flüchtlinge im Haus. Man rückte zusammen, einer suchte beim anderen Schutz und Hilfe. Wir pferchten uns in ein kleines Zimmer. Zum Schla-fen legten Helga und ich uns quer als Kopfkissen unter die "älteren Köpfe". Man hat uns nicht gefunden. Wovon haben wir in der Zeit gelebt, was haben wir gegessen? Ich weiß nur noch was von Trockengemüse aus alten Heeresbeständen. Die Siedlung befand sich in Bahnhofs-nähe. Dort standen verlassene Züge mit manchen Kostbarkeiten.
So vegetierten wir dahin, bis auch uns, Kowalkes, die Brutalität des Krieges einholte. Am Mittag des 19. März kam ein betrunkener Russe von mongolischem Aussehen ins Haus, fuchtelte mit seiner Pistole rum. Die jungen Dombrowas Frauen und ich flüchteten in die Waschküche, erschraken furchtbar, als gleich darauf ein Schuß losging. Der Soldat wollte meine Schwester Helga mitnehmen. Mutti wollte es verhindern und mußte dafür sterben. Sie erlag ihrer schweren Kopfverletzung am nächsten Tag. Dombrowas schaufelten ihr Grab im Garten hinterm Haus. Ich habe ihren Namen mit scharfem Messer in ein Brett geritzt und ein Kreuz gezimmert.
Derselbe Russe kam am nächsten Tag - nüchtern. Wie er uns gefunden hat, bleibt rätsel-haft. Es war eine große Siedlung - ein Haus sah wie das andere aus. Ich war mit meiner toten Mutter allein im kleinen Raum. Er schien alles zu bereuen, kauderwelschte, strich mir übers Haar und - verschwand.
Mit dieser grausigen, sinnlosen und unfaßbaren Tat hat sich für uns alles radikal verändert. Mit knapp 17 Jahren mußte ich für meine jüngeren Schwestern, Helga, fast 14 Jahre, und Jut-ta, unser kleiner Nachkömmling mit 2 ½ Jahren, dasein und sorgen. Es war für mich ein ge-waltiger Schock.
Ein paar Tage später hielt uns nichts mehr in Lauenburg. Wir wollten zurück nach Großtu-chen. Wir schafften es zusammen mit Dombrowas und Frau Labs. Genau einen Monat nach dem Auszug aus Großtuchen kamen wir wieder zurück, sehr traurig und einsam ohne Mutti. Kramps und andere Nachbarn waren schon zurückgekommen. Ihr Entsetzen über den Verlust unserer Mutter blieb mir lange in Erinnerung. Unser Haus war von der Hofseite zerschossen. Es stand offen, weil die Haustür fehlte. Tante Grete nahm uns fürs erste auf, ebenso das alte Ehepaar Otto und Amanda Holz. Unter unserm Kokshaufen im Keller waren etliche Lebens-mittel versteckt und nicht entdeckt worden. Sie halfen uns über manchen Engpaß hinweg. Unser Dorf füllte sich wieder so langsam. Jede Woche kehrten welche heim. Alle arm und ausgeplündert, egal, ob man mit großem Fuhrwerk oder weniger fortgezogen war.
Im Haus von Otto Kolberg war die russische Kommandantur untergebracht. Bald zogen die Polen nach. Sie nahmen das Haus von Max Kiedrowski in Beschlag. Kramps und wir la-gen dazwischen, das gab uns einen gewissen Schutz. Plündernde Soldaten machten bei uns kaum halt. Die Polen wurden da dreister, konnten alles gebrauchen. Aber, was hatten wir noch? Wir suchten in den Trümmern und im aufgeweichten, von Panzern zerwühlten Garten-grund nach einstigem Besitz. In der guten Stube lag der Kleiderschrank auf dem Rücken, darin befand sich ein Haufen Stroh. Die Russen haben ihn wohl als "Kastenbett" benutzt und drin gepennt. Auch Pferde müssen im Zimmer gewesen sein, in einer Ecke lag ein Haufen Mist.
Arbeit gab`s an allen Ecken, man holte jung und alt zum Aufräumen. Die Bahnstrecke Bütow-Rummelsburg wurde abgebaut. Da mußten wir Schienen aufladen helfen. Zerstörte Brücken wurden mit Erde zugefüllt. Sogar zu Waldarbeiten mußten wir antreten. Viele schö-ne große Buchen und Tannen holzten die Russen im Neuhüttener Wald ab. Zwischendurch trieb man große Kuhherden durch den Ort und suchte zu diesem Zweck junge Menschen, die den Treck nach Polen und weiter treiben sollten. Wie oft sind wir vom Essen aufgesprungen und haben uns da versteckt. Einmal landeten Helga und ich in hohen Brennes-seln.
Der junge Pole Conny - er arbeitete schon mehrere Jahre bei Max Deuble - war oft unser Be-schützer. Er warnte uns oft vor den Russen, zumal, wenn wieder "Viehtreiber" gesucht wur-den.
Tante Grete gelang es, von so einem Viehtrieb eine Milchkuh abzuzweigen. Da gab`s Milch, Quark und Kochkäse - Raritäten damals. Ganz selten gab`s beim Fleischer Möller eine Zuteilung für die Deutschen. Es waren Knochen, Innereien und Kuheuter. Wir haben es da-mals gebraten und gegessen. Es hat sogar geschmeckt. Das Brot für die Besatzer wurde bei Bäcker Borchardt gebacken. Uns belieferte der polnische Bäcker. Es war schwer zu genießen. Man biß oft auf Sand und kleine Steine. Anscheinend kehrte er das Fußmehl vom Boden auf und mengte es unter den Brotteig.
Durch unseren Polen Alfons Machlewitsch - er hatte das Malergeschäft "übernommen"- wurden wir von unserer Vertreibung informiert. Sie sollte im Winter erfolgen. Zu Alfons noch so viel: Er arbeitete von 1939, nach dem Polenfeldzug, bei uns als Geselle. Wir haben ihn gut behandelt - daher seine oft gutgemeinten Tips.
In Bütow beantragten wir daraufhin unsere Ausreisepapiere. Zwei, drei Mal tippelten wir auf den Bahnschwellen von Großtuchen in die Kreisstadt, bis wir die nötigen Papiere in den Händen hatten.
Am 16. November 1945 machten wir uns auf den Weg. Das waren Kramps mit 5 Perso-nen, Ehepaar Paul Biastoch und wir drei Kowalkes Mädchen. Conny, der Pole von Deubles, fuhr uns mit Pferd und Wagen zum Bütower Bahnhof. Auf der Brücke vor dem Bahnhof tra-fen wir den Fleischer Möller, abgemagert, quittegelb, kaum zu erkennen. Er kam aus dem Gefängnis, wurde dort gefoltert und geschlagen, verstarb bald danach.
Mit viel Wartezeit auf freier Strecke kamen wir nach fast 20 Stunden Fahrt in Küstrin an der Oder an. Der Krieg hatte hier viel verwüstet, kaum ein Haus war unbeschädigt. Wir such-ten und fanden ein arg zerschossenes Gebäude, blieben immer schön zusammen. Die Verpfle-gung war mies. Schon zeitig mußte man nach einer dünnen Suppe anstehen. Ab und an gab`s eine Scheibe Brot - sie war sehr mit Sand gestreckt. Nach einer Woche Aufenthalt ging es weiter nach Westen. Wir kamen auf vielen Umwegen nach Schlicht bei Feldberg in Mecklen-burg. Auf einem großen Gut kamen wir unter, aber wir landeten zuerst im Schafstall. Auf total ausgedörrtem Schafmist kam ein bißchen frisches Stroh und fertig war unser Lager. Wassser holten wir aus dem nahen Dorfteich. Jutta bekam als Kleinkind täglich ¼ - ½ Liter Milch.
Wir Jugendlichen mußten nach Feldberg zur Arbeit, wieder Eisenbahnschienen und ähnli-ches verladen. Es gelang den Männern bald, ein Zimmer im Gutshaus zu erwischen. Dort richteten sie ein sauberes Strohlager her und bauten einen kleinen Lehmherd. Zu kochen gab`s sehr wenig, aber Kartoffeln waren da. Gesundheitlich ging`s uns mies: Wir hatten alle die Krätze, eine ständig juckende Hauterkrankung. Es gab nichts zur Heilung, nur kratzen - krat-zen und aushalten, weil die Schorfwunden so weh taten. Jutta hustete auch oft - es war eine leichte Art von Keuchhusten.
Das Wichtigste für uns war die Postverbindung. Man konnte endlich schreiben und Post empfangen. Unser Vater muß Höllenqualen ausgestanden haben. Er wußte, daß wir von der Front überrollt waren, aber was ist danach geworden? Er teilte uns schon im Herbst `44 seine Privatadresse mit. An die schrieb ich und bekam bald Antwort. So erfuhr er dann im zweiten Brief, daß unsere Mutter nicht mehr lebte. Heimat, Besitz, Existenz und Frau verloren, wie schwer muß ihn das alles getroffen haben?
Im Dezember ging vom dortigen Bürgermeister eine Anfrage an uns - zwecks Verwand-schaft im Westen. Es würden Sammeltransporte frei rübergehen. Wo der Vater war, wußten wir ja: In englischer Gefangenschaft in Rendsburg. An besagte Privatadresse schrieb auch unsere Tante Emmy Kowalke; dieser Zufall führte uns wieder zusammen. Unser Ausreiseziel war also Haddamar in Hessen - amerikanische Besatzungszone.
Ich meldete mich mit den Schwestern an. Auch Elli zog mit - wir wollten nun fort - fort von den Russen. Die übrige Verwandtschaft schimpfte sehr mit mir. Wie könnte ich winter-tags so was unternehmen? Jutta hätte keine Schuhe - sie müßte erfrieren usw., usw. Sie ließen sich aber doch bekehren und zogen mit. Am 28. Januar `46 ging ein Transport nach Heiligen-stadt bei Kassel. Endstation der russischen Zone. Von hier marschierten wir zu Fuß - die we-nige Habe auf gemieteten Handwagen - über die russisch-englische Zonengrenze. Wieder kamen wir in ein Lager - es war Friedland. Hier wurden wir registriert, untersucht und gründ-lich entlaust.
Gott sei Dank war unser Aufenthalt dort von kurzer Dauer. Was sich dort abspielte, war schon sehr menschenunwürdig. Zusammengepfercht hausten wir die paar Nächte in Blech-hütten auf blankem, total nassem Erdboden. Sanitäre Anlagen so gut wie keine; das Lager war total überfüllt.
Mit den nötigen Papieren versehen, reisten wir am 1. Februar in Richtung Fritzlar - ameri-kanische Zone. Gute 4 km Fußmarsch brachten uns dann an unser Endziel - Haddamar - , wo uns Tante Emmy und Vetter Martin erwarteten. Wir drei Schwestern blieben vorerst bei ihr wohnen, Kramps und Biastochs fanden Aufnahme bei größeren Bauern. Für beide Familien gab es auf den Höfen gleich Arbeit und Brot. Sie hatten es gut getroffen.
Meine Schwester Helga besuchte in Haddamar für einige Wochen die Schule und sie be-kam somit ihr Abschlußzeugnis, welches wegen der Flucht `45 in Großtuchen nicht mehr ge-macht werden konnte. Im April `46 begann sie eine Lehre als Köchin in einem Altersheim am Edersee.
Jutta wurde versorgt von Tante Emmy, wenn ich auf dem Felde bei unserm Bauern war. Im Sommer bekam ich eine Lungen- und Rippenfellentzündung, hatte tagelang hohes Fieber. Meine Tante alarmierte daraufhin unsern Vater, der immer noch in Gefangenschaft bei den Engländern in Rendsburg war. Er wagte die Reise, kam über die "grüne Grenze", so hatten wir ihn endlich bei uns. Wir fanden bald eine größere Unterkunft für uns allein. Die hessi-schen, schönen alten Fachwerkhäuser waren schon gewaltige Bauten. Außer dem Eigentümer wohnten noch drei Familien aus dem Osten bei ihm. Die Einwohnerzahl des Ortes verdop-pelte und verdreifachte sich.
Ganz langsam konnten wir kleine Anschaffungen machen. Es gab noch alles auf Marken und Bezugsscheinen. Erst im Juni 1948, als die neue Währung kam, ging es langsam, aber stetig auch für uns bergbauf.
Rückblickend auf die Schreckens- und Leidenszeit, den Verlust eines lieben Menschen, haben wir oft Glück im Unglück gehabt. Dafür zollen wir unserm Herrgott täglich Dank. Auf die Frage: "Warum - warum mußte das alles geschehen?" konnte auch er keine Antwort ge-ben. Es war uns wohl bestimmt.