Elli Krug geb. Kramp
Lotterberg 6
Fritz Kramp
Rosengarten 12 34281 Gudensberg Tel. 05603-4140
Der Winter 1944/45 war kalt bei uns.
Der Krieg, die Front, rückte
näher. Großtuchen war immer voller Soldaten. Wir konnten oder wollten
es nicht glauben, daß auch zu uns der Russe kommen würde. Doch bald
tauchten die ersten Feindflieger auf, Geschützdonner war immer näher zu
hören. Am 3. März abends gegen 17 Uhr brachen wir dann zusammen mit
Perlicks auf nach Norden in Richtung Stolp. Wir hofften, dort die
Ostsee zu erreichen, um dann mit einem Schiff über die See nach Westen
zu kommen. Oder was dachten wir eigentlich? Wir wissen es auch nicht
mehr.
Was war das für ein Abschied! Die Ställe voller Vieh. Die Kühe wurden losgebunden, Schweinebuchten geöffnet, Hühner und Gänse flatterten durcheinander, unsere Hunde sprangen ängstlich an uns hoch und wollten mitgenommen werden. Alles mußte dableiben. Es war bitterkalt. Wir hatten so viel an Kleidung angezogen wie möglich. Jeder von uns hatte einen Brustbeutel voll Geld umgehängt. Der Schnee war hartgefroren und die Straßen glattgefahren. Die Pferde konnten sich nur schwer auf den Beinen halten und hatten Mühe, den schweren Wagen zu ziehen.
Wir fuhren also in Richtung Norden. Der Landweg nach Westen war bereits abgeschnitten. Aus heutiger Sicht: Welch ein Unsinn war diese Flucht! Aber die Angst trieb uns. Wie sah es auf den Straßen aus! Flüchtlinge, Soldaten, ein heilloses Durcheinander. Im Straßengraben weggeworfene Sachen, kaputte Fahrzeuge. Wir fuhren die Nacht durch, rasteten morgens kurz und fuhren weiter über Stolp bis kurz vor Stolpmünde. Hier ging es nicht mehr weiter. Alles war mit Soldaten, Flüchtlingen, Fahrzeugen restlos verstopft. Wir blieben oder mußten bleiben und "warteten" auf den Russen. Mit vielen anderen Flüchtlingen saßen wir in einem Haus, und nachts gegen 24 Uhr tauchten die ersten Russen auf. Ein Offizier mit Soldaten fragte zuerst: "Deutsche Soldaten?" Nach unserer Verneinung und gründlichem Nachsehen gingen sie wieder.
Am nächsten Tag kam ein Offizier und befahl: "Alles wieder zurück nach Hause!". Wir bespannten also den Wagen wieder und traten den Weg nach Hause an . Ein Pferd hatten uns die Russen genommen, wir fingen uns ein anderes ein. Stundenlang standen wir manchmal auf der Straße und konnten weder vor noch zurück. Die meisten Sachen auf unserem Wagen waren wir bereits losgeworden. Dann kam ein Trupp Russen, die nahmen uns alles weg, was wir hatten. Nur das, was wir auf dem Leibe hatten, konnten wir behalten; soweit es den Russen nicht gefiel. Zum Glück hatten wir alles doppelt und dreifach angezogen.
Wo sollten wir hin, wo uns verstecken? Die Angst war fürchterlich. Wir sind in der ersten Nacht unseres Heimweges auf einen Friedhof geflüchtet und haben uns zwischen den Gräbern und Lebensbäumen versteckt. Die Frauen waren Freiwild. Näheres sei hier erspart! Nur so viel: Unsere Schwester Gertrud litt bald nach dieser Zeit an epileptischen Anfällen, die Jahre später zu ihrem Tode führten.
Am nächsten Morgen ging es weiter, um nicht gesehen zu werden, so oft wie möglich durch die Wälder. Immer wieder fielen Schüsse; Russen erwischten uns. Einmal sollten wir von einem mitgenommen werden, er wollte aber erst noch einen Offizier holen. Wir konnten in den nächsten Wald flüchten. Tote fanden wir immer wieder auf unserem Weg, Deutsche und Russen. An einem Abend kamen wir in ein verlassenes Dorf. Kein Mensch war zu sehen. Nur am Ortseingang lag mitten auf der Straße ein Mann, wohl ein Bauer, tot mit ausgestochenen Augen. Wir blieben in dem Dorf und versteckten uns auf einem Heuboden. Am nächsten Morgen schlichen wir weiter durch Wälder Richtung Großtuchen.
Wir wissen es heute nicht mehr, wie viele Tage wir so brauchten, kamen aber eines Abends, es mögen 12 oder 14 Tage seit unserer Flucht von Großtuchen vergangen gewesen sein, bei Onkel Paul (einem Schwager unserer Mutter) in Wiesenthal an. Wir haben gehofft, hier draußen sicherer zu sein als in Großtuchen selbst, außerdem, daß Biastochs zu Hause geblieben seien. Wir trafen dann auch Onkel Paul und Tante Luise und noch verschiedene alte Leute an, deren Namen wir heute nicht mehr wissen. Aber waren wir hier sicher? Zwei Tage blieben wir zunächst hier, dann gingen unser Vater und ich, Fritz, auf Schleichwegen nach Großtuchen, um zu sehen, wie es dort aussah. Was fanden wir vor! Die Scheune war total, der Stall bis auf den unteren Teil abgebrannt, das Wohnhaus beschädigt. Kein Vieh war mehr da. Der ganze Hof und Garten waren von Panzern zerwühlt. Auf dem Hof lag eine große Menge Munition, die von einem Russen bewacht wurde. Er entdeckte uns, ließ uns aber ins Haus. Wir blieben nicht lange, es sah böse aus, und es gab auch nichts zu holen. Es war alles um- und ausgeräumt. Wir gingen wieder zurück nach Wiesenthal. Auf dem Rückweg sahen wir vor Kolbergs Haus zehn bis zwölf deutsche Soldaten liegen; sie waren offenbar verwundet gewesen, und es war unschwer zu erkennen, daß sie erschlagen worden waren.
Bei Biastochs fanden wir aber keine Ruhe. Die Russen kamen immer wieder bei Tag, öfter noch bei Nacht, und suchten immer wieder Frauen und Mädchen. Nach ein paar Tagen bei Onkel Paul tauchte ein Pole auf; er hieß Conny; wir kannten ihn von früher. Er sagte uns: "Ihr müßt nach Großtuchen und euch bei der Kommandantur melden. Ihr müßt arbeiten." So gingen wir dann wieder nach Hause. Wir machten uns mit Perlicks auf den Weg zur Kommandantur und mußten dann arbeiten. Fritz konnte auf dem Hof von Onkel Paul bleiben; er sollte dort bei dem Polen arbeiten. Für die anderen begann die Arbeit im Dorf. Aufräumungsarbeiten waren dran. Als erstes mußten wir die Toten beerdigen, Deutsche und Russen. Unsere Kühe lagen zum Teil im See, die anderen waren einfach weg. Die Kühe mußten aus dem See geholt werden. Wir begruben sie in den Bombentrichtern, die wir verfüllen mußten. Abends gingen wir, besser: schlichen wir noch einige Zeit nach Wiesenthal, um dort zu schlafen. Zum einen mußten wir in unserem Haus erst einmal die Möglichkeit des Wohnens schaffen, zum anderen glaubten wir uns draußen in Wiesenthal immer noch sicherer vor den Russen als im Dorf selbst. Aber wo war man sicher?
Irgendwie haben wir es dann geschafft, unser Haus so weit in Ordnung zu bringen, daß wir dort bleiben konnten. Inventar, Eßgeschirr, alles, was wir fanden, hoben wir auf. Für Fritz brachte Papa Schuhe mit, die er einem toten deutschen Soldaten ausgezogen hatte, den er beerdigen mußte. Immer wieder kamen Viehtrecks durch, von den Russen abgetrieben. Deutsche, Männer oder Frauen, wen die Russen eben kassierten, mußten dabei mitgehen. Auch Fritz wurde eines Tages zu so einem Pferdetrieb kassiert. Ihm gelang es, unterwegs wieder zu türmen.
Arbeiten mußten wir zunächst für die Russen, später dann für die Polen. Brücken mußten repariert werden. Erde, die zur Aufschüttung oder Verfüllung von Bombentrichtern gebraucht wurde, mußten wir mit Handtragen herbeischleppen. Wir mußten die Gleisanlagen der Bahnstrecke bis Bütow abbauen und verladen. Und immer: "Dawaj, dawaj!" Wie wir diese schwere Arbeit verrichten konnten, weiß ich heute nicht mehr, wir hatten doch nichts zu essen. Kaufen konnten wir nichts. Pro Woche bekamen wir pro Kopf ein Brot zugeteilt. Einmal bekamen wir Pferdefleisch. Von Runkelrüben haben wir Sirup gekocht. Gewürzt haben wir zum Teil mit Kali, den wir gefunden hatten. Irgendwo hatte unser Vater eine Kuh aufgetrieben, oder hatte sie ihm ein Pole gegeben, bei dem er arbeiten mußte? Leider gab sie nur zwei Liter Milch.
Inzwischen kamen auch unsere Cousinen Irmgard, Helga und Jutta Kowalke von der Flucht zurück. Die drei Mädchen zogen dann auch bei uns ein. Ihr eigenes Haus - sie waren unsere Nachbarn - war bereits von Polen bezogen, wie auch alle anderen Häuser, die noch in Ordnung waren.
Obwohl bei uns nichts zu holen war, kamen nun neben den Russen auch die Polen, um zu sehen, ob es nicht doch noch was gab. Was ihnen gefiel, nahmen sie. Unser Vater wurde von den Russen von einer "Baustelle" weg zusammen mit noch anderen Deutschen verschleppt. Die "Baustelle" war ein Bombentrichter hinter unserem Backhaus, in dem sie Menschen und Vieh begraben mußten. Es gab keine Verabschiedung. Unsere Mutter konnte ihm gerade noch eine Jacke und ein Stück trockenes Brot nachbringen. Fritz hatte Glück, daß er nicht dort war, er hätte sonst auch mitgehen müssen. Bis Graudenz hat unser Vater mitlaufen können. Aufgrund eines Leistenbruches konnte er dann nicht mehr, und die Russen ließen ihn gehen. Ein Pole kassierte ihn wieder; bei dem mußte er arbeiten. Nach Beendigung der Herbstbestellung (Landwirtschaft) durfte er wieder nach Hause gehen. Das alles erfuhren wir aber erst, als er wieder zu Hause ankam.
In Großtuchen hatte der Pole die Verwaltung übernommen. Wir mußten jetzt auch bei den Polen in der Landwirtschaft arbeiten. Fritz erinnert sich, daß eines Tages ein Trupp deutscher Soldaten unter Führung eines deutschen Offiziers singend durch Großtuchen marschierte. Es waren Überläufer, die sich den Russen angeschlossen hatten. Auch Elli erinnert sich an einen Trupp russischer Soldaten, die eines Tages in die Küche kamen. Einer von ihnen sprach perfekt deutsch. Auf unsere erstaunte Frage: "Wieso?" antwortete er : "Ich bin Deutscher, habe aber rechtzeitig die Seiten gewechselt."
Eines Tages verletzte sich Fritz, als er für unsere Kuh Futter holte, mit der Sense sehr schlimm am Bein. Elli bekam schlimme dicke Füße und Beine; man sagte, es sei die Krätze. Ein Wunder, daß alles ohne ärztliche Hilfe - so etwas gab es für uns nicht - wieder verheilte. Fritz arbeitete jetzt bei dem Polen Pallach, der sich Gastwirtschaft und Kaufmannsladen Deuble angeeignet hatte. Eine seiner Arbeiten dort bestand darin, zusammen mit dem Polen mit einem Pferdewagen 60 km nach Konitz zu fahren, um dort Ware für den Kaufmannsladen zu holen. So verging der Sommer, und der Herbst kam. Es wurde jetzt etwas ruhiger. Vor allem die Russen wurden ruhiger; aber es war immer noch ein angstvolles Leben für uns.
Nun begannen auch die ersten Ausweisungen. Man kann auch sagen, die ersten durften ausreisen. Einerseits wollten uns die Polen loswerden, andererseits hätten sie uns auch noch als kostenlose Arbeitskräfte behalten. Wir mußten unsere "Ausreise" nach der Ernte "beantragen". Wir, das waren Biastochs, Kowalkes Mädchen und wir. Für uns wurde die Angst um unseren Vater größer. Würde er zurückkommen? Wir bekamen die Ausreisepapiere, wenn wir uns richtig erinnern, Anfang November mit Termin für den 16. November 1945. Was waren wir froh, als unser Vater acht Tage vor unserer Ausweisung wieder bei uns eintraf. Zu Fuß von Graudenz! Der Pole Pallach wollte Fritz unbedingt als Arbeitskraft behalten, ließ ihn dann aber doch gehen.
So mußten wir dann, Gott sei Dank wenigstens gemeinsam, am 16. 11. 1945 unsere Heimat verlassen. Zusammen mit Kowalkes Mädchen fuhr uns Pallach nach Bütow zum Bahnhof. Mitnehmen durften wir nur das, was wir tragen konnten. Aber wir hatten ja auch nichts zum Mitnehmen. Nur das, was wir auf dem Leibe trugen, und eine Tasche oder einen Beutel voll! Wenn wir heute zurückdenken, so müssen wir sagen, daß uns der Abschied von zu Hause schwer gefallen ist, wir aber doch auch froh waren, von dort wegzukommen. Das Leben, das wir dort in diesem Dreivierteljahr führen mußten, es war zu schwer, es war zu schlimm. Wir fuhren also nach Bütow zum Bahnhof und trafen dort neben Onkel Paul und Tante Luise noch andere "Ausreisende" an. Hier wurden wir erst noch einmal gründlich "gelaust", man hätte ja noch etwas finden können. Unser Zug setzte sich gegen 19 Uhr in Bewegung über Lippusch nach Konitz. In Konitz angekommen, wurden die Männer gegen Mitternacht einzeln mit Gepäck von der Polizei in einen Dienstraum geführt. Jeder wurde nach früherer Parteizugehörigkeit und ähnlichem ausgefragt. Zum Glück traf das bei uns nicht zu. Bevor wir weiterfahren konnten, wurden wir noch einmal gründlich durchsucht. Was ihnen gefiel, behielten sie. Ein wenig Kinderwäsche, die wir für Jutta irgendwie ergattert hatten, nahmen uns die Polen wieder ab.
Von Konitz über Schneidemühl ging es weiter nach Küstrin, wo wir nach 17stündiger Fahrt ankamen. In Küstrin blieben wir neun Tage in einem Sammellager. Unterkunft mußte man sich so etwa selbst suchen. Mit zehn Personen (fünf Kramps, zwei Biastochs und drei Kowalkes) bezogen wir einen Raum. Nach einer von der Lagerpolizei bestätigten "Anwesenheitsliste" konnten wir Essen empfangen, wenn es etwas gab. Etwa 25.000 bis 30.000 Menschen waren im Lager. Die Polen machten ihre Schwarzmarktgeschäfte. Ein kleines Brot kostete 120.- DM. Am 26. oder 27. November bestiegen wir den nächsten Transport und fuhren über die Oderbrücke weiter gen Westen. Fast eine Woche dauerte unsere Fahrt, bis wir an unserem nächsten Ziel, Feldberg, Kreis Stargard in Mecklenburg, ankamen.
In Feldberg standen Wagen bereit, die uns zusammen mit 130 Personen in das vier Kilometer entfernte Gutsdorf Schlicht brachten. In einem großen Schafstall wurden wir zunächst untergebracht. Zum großen Teil lag der alte Dung noch darin. Zum Glück gab es genügend Stroh. Durchs Dach konnte man die Sterne sehen. In den nächsten Tagen bezogen wir mit elf Personen ein Gutszimmer. Zu uns zehn kam noch ein Einzelgänger, Aschenroth. Verpflegen mußten wir uns - es gab Lebensmittelkarten - selbst. Papa und Onkel Paul mauerten im Zimmer aus Lehm einen Herd. Wenn es für unsere Lebensmittelkarten auch nicht viel zu kaufen gab, wurden wir doch einigermaßen satt. Bei Nacht besorgten wir uns schon mal Kartoffeln von einer Miete. An dem einen Ende buddelten wir, am anderen die Wildschweine.
Die Männer mußten wieder arbeiten. Holz wurde gemacht und nach Rußland verladen. Als letztes mußten wir ein abmontierte Schotterwerk auf die Bahn ebenfalls gen Rußland verladen. Weihnachten feierten wir in Schlicht. Wir schmückten einen Weihnachtsbaum mit zerfranstem Bindegarn. Die Läuse feierten mit. Was haben die uns gequält. Abends saß oft einer vor dem Herdfeuer und hat geknackt. Unsere Mutter bekam ein ganz schlimmes Geschwür am Rücken. Wir hatten immer Angst, daß sie sterben würde.
Nach und nach verließen viele der Flüchtlinge das Gut. Es war so: Wer im Westen oder überhaupt eine Adresse angeben konnte, wo er hinkonnte, der durfte gehen. Da erhielten wir eines Tages Post von unserer Tante Emmy; sie war eine Schwägerin unserer Mutter. Sie war bereits irgendwie glücklich im Westen gelandet und schrieb uns, daß auch wir nach Haddamar bei Fritzlar kommen könnten. So fuhren wir denn am 28. Januar 1946 bis Heiligenstadt über die russisch-englische Zonengrenze ins Durchgangslager Friedland. Nach Untersuchung, Registrierung und Entlausung bekamen wir in Göttingen Papiere zwecks Übersiedlung in die amerikanische Besatzungszone. Wir fuhren dann weiter bis Kassel, um dort vom Amerikaner überprüft zu werden, und dann ging`s weiter bis Fritzlar. Von Fritzlar machten wir uns zu Fuß auf nach Haddamar zum Bürgermeister. Der hatte uns, nachdem wir vorher bei Tante Emmy gewesen waren, wohl schon erwartet. Unser neuer Hauswirt und Hausmeister kam, um uns zu begrüßen. Oder hat er uns erst gemustert? Herr Arend, so hieß die Familie, bei der wir wohnen und arbeiten sollten, bat uns mitzukommen. Kowalkes Mädchen erhielten ihre Wohnung ebenfalls zugewiesen.
Ja, wie waren unsere ersten Eindrücke von unserer neuen Heimat? Lassen wir dies Onkel Paul, der einen Tag später in Haddamar ankam, mit seinen Worten beschreiben. Er schreibt: "Wir fanden Arbeit, Wohnung und Brot. Unsere Gefühle? Während wir bisher nur Schrecken des Krieges kennengelernt hatten, fanden wir hier alles wie im Frieden vor. Keine Furcht vor Russen oder Polen. Alles unversehrt. Alles lebende und tote Inventar ist da, die Felder wie im Frieden bestellt. Aus allen Häusern strahlt elektrisches Licht. Hier war kein Krieg gewesen. Land und Leute haben wir kennengelernt, unsere wahre Heimat ist es noch nicht, unsere einzige Heimat ist unsere Kirche. Unser einziger Wunsch und heißes Gebet zu diesem Weihnachstsfest ist: Gebt uns unsere Heimat wieder, schickt die Gefangenen heim!"
Wir Kramps fanden Wohnung, Brot und Arbeit bei dem Landwirt Arend. Einfügen möchten wir hier noch, daß zu uns Kramps noch unserer ältester Bruder Kurt gehört hat, der bereits 1942 in Rußland gefallen war. Wir bei Arends waren erst mal froh, Essen und ein Bett zu haben, in dem wir ohne Angst schlafen konnten. Die Arbeit, die uns wirklich nicht fremd war, fiel uns zunächst schwer. Wir waren ausgemergelt und hatten Hunger. Zum Anziehen hatten wir auch nichts. Abends wurden die Sachen gewaschen, morgens wieder angezogen. Erst so allmählich "kamen wir zu uns". Unser Vater wurde bald am Bruch operiert. Er erholte sich nicht wieder richtig und verstarb bereits im Jahre 1950. Er hatte die Umstellung, die Trennung vom eigenen Hof und die Arbeit auf fremder Scholle am wenigsten überwunden. Gerda konnte schon bald die schwere Arbeit wegen ihrer Krankheit nicht mehr machen. Sie starb im Jahre 1957.
Ich, Elli, kehrte Haddamar bald den Rücken und ging nach Deute (etwa 20 Kilometer südlich von Kassel), um im Haushalt eines größeren landwirtschaftlichen Betriebes zu arbeiten. Auch Fritz ging fort von dort und arbeitete in Fritzlar bei den damaligen Besatzungstruppen. Er lernte seine Frau in Haddamar kennen, heiratete und zog mit Familie nach Dinslaken, um dort als Busfahrer sein Brot zu verdienen. Hier wurden seine Söhne Erwin und Jürgen geboren.
Ich, Elli, lernte in Deute meinen Mann kennen. Wir heirateten 1953; 1954 wurde unser Sohn Klaus geboren. 1958 bauten wir unser Haus. Unsere Mutter zog zu uns, verbrachte hier ihren Lebensabend und verstarb im Jahr 1982.
Fritz gefiel es in Dinslaken nicht so sehr; es zog ihn zur Mutter (oder zog sie ihn?), und er kam auch nach Deute. Hier baute auch er mit seiner Familie sein Haus. Leider verstarb bereits im Jahr 1971 sein Sohn Erwin. Fritz lebt heute mit seiner Familie - Sohn Jürgen ist verheiratet - in seinem Haus und freut sich über einen Enkel.
Hier in Deute sind wir nun heimisch geworden, wenn wir unsere alte Heimat auch nicht vergessen können. Großtuchen haben wir inzwischen alle mal wieder besuchen können. Schmerzlich war das Wiedersehen mit der alten Heimat, aber ein wenig fremd war sie uns auch schon geworden. Manches war anders als wir es in Erinnerung hatten. Wo war unser schöner See, auf dem wir im Sommer so gerne mit dem Boot und im Winter mit den Schlittschuhen gefahren waren? Kaum etwas war aufgebaut; fremde Menschen begrüßten uns zwar freundlich, aber wir waren ein wenig fremd geworden.
Unsere Heimat ist jetzt, wie schon gesagt, hier in Deute. Hier lebe ich, Elli, mit meinem Mann in unserem Haus. Unser Sohn Klaus ist verheiratet und lebt mit seiner Frau in deren Heimatort Wolbrechtshausen bei Göttingen mit ihren beiden Söhnen Stefan und Christian in ihrem neu gebauten Haus. Über unsere Enkel freuen wir uns besonders.