Ruth Labuhn
"Haus Abendfrieden" Hildesheimer Straße 1
D-37581 Bad Gandersheim
Ende Februar 1945 war die Front schon sehr nahe. Russische Tiefflieger brausten heran, schossen und waren weg. Christa Gatermann spielte mit einigen Kindern auf dem Bahnhofsgelände. Sie wurde beim Spielen durch Granatsplitter tödlich getroffen. Das traf mich sehr, habe ich doch viel mit Gertraud und Christa gespielt. - Ich konnte es gar nicht glauben.
Was sollten wir tun? Hatte es noch Zweck loszufahren? Unser Vater wollte nicht. Die durchziehenden Soldaten rieten aber unbedingt zur Flucht. So packten wir dann das Notwendigste auf den Wagen, spannten an und verließen gegen 18.00 Uhr des 2. 3. unser Grundstück. Unser Hund wollte unbedingt mit. Vater schickte ihn zurück. Traurig blieb er sitzen und jaulte laut. Zunächst ging es zu Gutzmanns auf`s Gut. Gemeinsam begann nun die aussichtslose Fahrt. Der Himmel Richtung Rummelsburg leuchtete rot. Eigentlich wußten wir nicht richtig wohin. Nur der Weg Richtung Danzig war noch frei. Sehr langsam kamen wir voran. Es hatte noch geschneit. Die Pferde hatten Mühe in den pommerschen Bergen. Zwischendurch trafen wir auch immer noch Großtuchener.
Wir trennten uns dann auch von Gutzmanns. Unser Vater wollte Richtung Stolp nach Hebrondamnitz. Dort wohnte eine Tante von uns im Wald. Wir sind aber nie dort angekommen. Inzwischen waren wir in Klein-Massow, Kreis Lauenburg. Es war Abend des 7. 3. Todmüde holten wir unsere Betten und legten uns in einer Küche auf viele Holzpantoffeln. Meine Brüder hatten sich noch einmal umgesehen. Sie hatten Kaufmann Genee getroffen, der brach wieder auf, denn der Russe war nur noch wenige Kilometer entfernt. Wir blieben, weil wir einfach nicht mehr konnten. Am nächsten Morgen ging es sehr langsam voran, überall war noch Militär dazwischen. Dann wurde es unheimlich still auf den Straßen. Siegfried und Erwin gingen auf einen Berg. Sie brachten die Nachricht, es kommen viele Panzer. Gespannt warteten wir, und kurze Zeit darauf rollten viele russische Panzer an uns vorbei. Als es ruhig wurde, kehrten wir um und fuhren auf das Gut Ganske. Viele Flüchtlinge waren hier. Der Gutsbesitzer lebte im Stall unter den Flüchtlingen. Keiner hat ihn verraten. Es begann nun eine böse Zeit.
Nach gut zwei Wochen brachen wir mit der Familie Dunse auf. Wir wollten versuchen, nach Hause zu kommen. Leider kamen wir nur bis Neuendorf bei Lauenburg. So kehrten wir wieder um nach Ganske. Man sprach jetzt schon von Verschleppungen. Wir nähten uns alle einen Rucksack. Anfang April war es dann soweit. Es gab kein Entrinnen mehr. Systematisch räumten die Russen Dorf um Dorf. Wir fuhren wieder im Treck bis nach Klein-Massow. Hier übernachteten wir noch mal gemeinsam. Am nächsten Morgen ging es bis nach Vietzig. Mit Bangen fuhren wir auf die Auffangstelle zu. Käte und Siegfried mußten mit. Vater mußte ein Stück laufen, dann sahen sie, daß er wirklich ein steifes Bein hatte. Auch mich musterte man. Meine Hängezöpfe und meine Größe waren wohl der Grund, daß ich nicht mit mußte. - Unsagbar schwer war der Abschied von den Geschwistern. Weinend zogen die Eltern, Erwin und ich weiter. Eine Frau sagte zu meiner Mutter: "Weinen Sie nicht, der Sieg ist doch unser." Es wirkte wie Hohn in dieser Lage. Schweigsam und ziellos trotteten wir hinter dem Wagen her. Wir landeten dann in Zesenow und fanden Aufnahme in einem Bauernhaus. Pferd und Wagen wurden wir bald los. Vater wurde sehr krank, wir hatten große Sorgen um ihn. Als die Russen noch mal das Dorf besetzten, versteckten wir uns tagelang im Lebamoor. Normal war unser Versteck unterm Dach. Ich wundere mich noch heute, daß da nichts passierte. Im Balken, den wir betraten, steckte eine Granate - ein Blindgänger. Dicht daneben hatten wir unser Lager.
Viel dachten wir an Siegfried und Käte. Ob sie wohl schon abtransportiert waren? Inzwischen war es schon Mai geworden. Alles grünte, und doch waren wir so traurig. Es kam der 12. Mai, der Geburtstag unserer Mutter. Unsere Gedanken gingen wieder zu den beiden. - Da, gegen Mittag kommen zwei Personen auf den Hof. Wir trauten unseren Augen nicht. Sollte es wirklich wahr sein? Ja, es sind Käte und Siegfried! Wir können es nicht fassen. Unsere Freude und Dankbarkeit sind grenzenlos. - Sie brachten auch die Nachricht mit, daß der Krieg zu Ende sei und Deutschland bedingungslos kapituliert hat am 8. Mai. - Einige schenkten dem aber keinen Glauben. -
Nun waren wir wieder zusammen und bekamen wieder Mut. Meine Brüder bastelten alte Fährräder ohne Bereifung zusammen. Daran hingen wir unsere Habseligkeiten und machten uns nun auf den Weg. Mit uns ging noch Familie Winkel aus dem Eulenkaten bei Neuhütten. Wir mieden die Hauptstraßen, so gut wir konnten. Alles ging gut bis Damsdorf. Hier war inzwischen polnische Miliz. Sie stahlen uns unsere alten Fahrräder. Wir luden nun, was wir konnten, auf Winkels zweirädigen Karren, den Rest trugen wir huckepack. Sehr freuten wir uns, als wir unser liebes Großtuchen erblickten. Es lag so friedlich da. Der rote Kirchturm und die Seen grüßten. Im Dorf empfingen uns viele Bekannte. Unser Haus stand noch. Wir waren glücklich und dankbar, daß wir wieder daheim waren. Roggen war noch ungedroschen in der Scheune, Kartoffeln und Rüben waren in der Miete. Als erstes wurden Kartoffeln gepflanzt.
Die Zeit war ungewiß, Nachrichten gab es keine, viel wurde geredet. Immer mehr Polen kamen ins Dorf. Herr Gierschewski hatte eine rot-weiße Armbinde und ein Gewehr über der Schulter. Für ihn war die große Zeit gekommen. Zu unserem Vater sagte er: "Früher habe ich doch nur das Gnadenbrot gegessen, aber nun ist alles besser." Überhaupt wunderten wir uns, daß schon 1945 eine Reihe deutscher Katholiken sich für Polen entschieden und unterschrieben hatten. Sie wollten wohl nicht Hab und Gut verlieren, zudem verband sie der gemeinsame Glaube.
Es gab immer mehr Übergriffe von den Polen. Wir Deutschen waren rechtlos.
Ein Höhepunkt im Sommer 1945 war ein Gottesdienst in unserer geliebten Kirche. Die Kirche war sehr voll. Herr Mauß hielt den Gottesdienst. Das gemeinsame Hören, Singen und Beten war eine Stärkung für uns. Natürlich waren alle sehr bewegt. Allerdings ahnten wir damals noch nicht, daß es der letzte Gottesdienst für uns in unserer Heimat sein sollte. Herr Mauß wurde abgeholt und hat viel gelitten.
Mehr und mehr machte Angst sich breit. Viele machten sich auf den Weg über die Oder. Oft ging der alte Herr Skierka bei uns vorbei und machte uns Mut und Hoffnung mit seiner Meinung, daß wohl alles nur ein Übergang sei.
Im August kam auch auf unser Grundstück ein Pole mit dem schönen deutschen Namen Roggenbug. Er brachte seine Frau, einen Sohn Kasimir und eine Ziege mit. Sie waren wirklich arm. Wir hatten nicht mehr viel, aber doch noch ein bißchen mehr. Frau Roggenbug hatte zwei Kleider, beide schon geflickt. Im Winter fror sie sehr, dann sagte sie: "Leib, zittere nicht, du hast es im Sommer gut gehabt!" Zunächst ging alles gut, aber bald wurde es ungemütlich.
Wir bemühten uns nun auch um Ausreisepapiere. Man lehnte unseren Antrag ab. Einige Tage danach wurden wir eingeteilt für polnische Familien. Ich mußte zu Leon Kulas, dem gefürchteten polnischen Kommandanten. Es begann für mich eine schwere Zeit. Immer hatte ich Angst. Sehr schwer mußte ich arbeiten. Feierabend gab es nicht. Schuhe hatte ich auch nicht, so ging ich denn in Holzpantoffeln in dem kalten Winter durch den tiefen Schnee. Oft verlor ich sie. Kulas hatte das Haus von Dr. Maroske und Dabels besetzt. Eigentlich wundere ich mich heute noch, daß ich jeden Abend den Weg im Dunkeln allein an den Drei-Brücken entlang ging. Die Angst vor dem Kommandanten Kulas war größer als die vor dem einsamen Weg. Einmal wurde ich doch krank, ich blieb zu Hause. Es war Sonntag, ich war schon etwas aufgestanden. Plötzlich rief Siegfried: "Ruthchen, Kulas kommt durch die Brücke!" Ich, wie der Blitz Kleid aus und ins Bett. Da stand auch schon Kulas im Zimmer. Er musterte mich und sagte: "Na, so", hob die Decke hoch, um zu sehen, ob ich wohl auch ausgezogen wäre. -
Im Frühjahr wurde alles noch härter. Tagelang schleppte ich den Dreck von den Außen-toiletten auf den Hanggarten von Dabels. Kulas und einige Polen stellten sich daneben und sagten: "Na, Niemka, schöne Arbeit!" Sonntags hütete ich die Kühe. Dann fuhren ehemalige Bekannte mit den Fahrrädern vorbei zum katholischen Gottesdienst. Eine sagte mal: "Na, Ruth, da hast du ja eine schöne Arbeit." Wie weh tat das! Gern wäre ich auch zum Gottes-dienst gegangen. Sehnsüchtig schaute ich zum Kirchturm und dachte an die Zeit, als unsere Glocken noch weit über Großtuchen hinaus zu hören waren. Nun schwieg auch die kleine Glocke. Frau Hoffmann war auch noch da. Wie mag es ihr wohl schwer gewesen sein, nicht mehr zu läuten. Wir alle kennen sie ja. Im Dauerlauf rannte sie oft zur Kirche, dreimal am Tag, um für uns die Glocken erklingen zu lassen. Auch sie durfte nicht mehr in die Kirche; diese blieb für uns für immer verschlossen. Polen allerdings begannen damals schon mit der Zerstörung.
Für mich wurde es immer unerträglicher. Für die schwere Arbeit bekam ich keinen Pfennig; alles umsonst. - Manchmal ging ich bei Familie Skierka vorbei; die machte mir Mut. Schließlich suchte ich mir einen anderen Bauern und wagte es einfach zu wechseln. Vom ersten Augenblick fühlte ich mich wohl bei Rebakowski auf dem Wank-Grundstück. Niemand brüllte mehr. Ich brauchte keine Angst mehr zu haben. Jedoch die Freude sollte nicht lange währen. Eines Tages stand der gefürchtete Kommandant Kulas auf dem Hof. Ein heftiger Streit zwischen Kulas und Rebakowski entbrannte. Ich war in der Küche. Plötzlich kam ein Pole mit Gewehr herein. Er sagte nur: "Wenn du nicht gleich mitkommst, schieße ich!" Mir war alles gleich, ich wollte nicht mehr. Kulas tobte auf dem Hof. Rebakowski war diesem bösen Menschen nicht gewachsen. Ich mußte wieder mit. Kulas mit Fahrrad und der andere mit Gewehr hinter mir. So zog ich durch`s Dorf. Ich ging dann noch zur Polizei und zum Wojt. Schließlich durfte ich doch zu Rebakowskis zurück. Sie waren einfach menschlich, und das tat gut.
Bei uns im Haus mit Roggenbug's war es auch nicht mehr zum Aushalten. Sie ärgerten sich, daß wir noch da waren. Schließlich wollte er uns abholen lassen. - So zogen wir dann aus unserem Haus in die Brennerei zu Familie Schutza. Rebakowski fuhr unsere paar Sachen dorthin. Bei dem Polen Schutza hatten wir völlige Freiheit. Sonntags hielten wir unseren Familiengottesdienst. Nachmittags saßen wir im Garten und sangen Volkslieder. -
Im Sommer 1946 ging ein Transport mit Deutschen über die Oder. Leider ohne uns. Dann wurde der nächste im Winter 1946/47 zusammengestellt. Es war eine eisige Kälte. Trotzdem wären wir gerne mitgefahren. Frau Hoffmann, unsere treue Kirchendienerin, war auch unter den Ausgewiesenen. - Wir waren nun noch einsamer und hatten große Angst, daß man uns für immer zum Arbeiten behalten würde. Rebakowski gab mir das Versprechen, daß ich beim nächsten Mal mitfahren würde. So warteten wir. Am 1. September 1947 ging der letzte Transport. Diesmal waren wir dabei. Mit uns fuhr noch Max Kowalke und Familie Warschkow aus Alexanderhof. Ich sehe noch Friedchen Winkel aus Alexanderhof. Sie mußte bleiben und weinte sehr. Erst 1956 ist sie herausgekommen.
Nun waren alle Deutschen, die nicht unterschrieben hatten für Polen, fort. Wir waren sehr froh, als wir endlich im Viehwagen zu 30 Personen waren. Langsam setzte sich der Zug in Bütow in Bewegung. Der Abschied wurde uns nicht schwer, denn unsere geliebte Heimat war so fremd geworden. Die Fahrt war aufregend. Max Kowalke stand oft an der Tür, dann sagte er: "Die bringen uns auf andere Güter." Noch immer hatten wir Angst. Sehr langsam verlief unsere Fahrt. Endlich erreichten wir Stettin-Scheune. Hier war ein großes Lager. Nach einigen Tagen wurden wir wieder verladen. Wieder ging die Angst um: Würden wir wirklich nach Deutschland kommen? Schließlich landeten wir in Posen, dann ging es wieder westwärts und endlich bei Forst in der Lausitz über die Grenze. Wir waren heraus aus Polen. Unterwegs mußten wir uns ja selber versorgen.
Mit uns fuhr noch eine Familie Schulz aus Radensfelde. In Ermangelung einer Schüssel hatten sie zwei Nachttöpfe. Es sah immer so putzig aus, wenn sie darin Wasser holten und sich wuschen. Wir mußten oft lachen.
Unser Zug fuhr nun in Richtung Berlin. Staunend sahen wir die erste S-Bahn, sahen, wie sich Türen öffneten und selbständig schlossen. Alles ging so schnell. Familie Schulz hatte noch eine alte Oma mit, die sehr hilflos um sich blickte. Frau Schulz sagte immer wieder: "O, wie schal dat ware mit Oma, dei kimmt da doch nich so schnell rinn".
Schließlich landeten wir im Lager Saalow bei Berlin. Hier blieben wir 14 Tage. Es war ein wunderbares Gefühl, überall die Muttersprache zu hören. Am 19. 9. feierte ich meinen 18. Geburtstag. Ich bekam einen schönen Blumenstrauß. Es war für mich ein sehr schöner Tag. Aus tiefstem Herzen konnte ich singen: "In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet." Ich war jetzt 18 und hatte doch die Möglichkeit, etwas zu lernen.
Wir wurden dann am 30. 9. in Ludwigsfelde bei Berlin eingewiesen. Mit jedem Zug kamen die Berliner. Sie litten Not. So waren die Felder und Wälder leergefegt. Unser Vater machte Holzpantoffeln und Körbe und bekam dafür Lebensmittel von den Bauern.
In Ludwigsfelde gefiel es uns. Man konnte schnell und billig nach Berlin kommen. Vater sagte immer: "Für 50 Pfennig fahre ich durch ganz Berlin." Schnell hatten wir uns an alles gewöhnt. In Berlin waren auch oft große Veranstaltungen, die wir besuchten. So waren wir dankbar, daß doch alles noch zur rechten Zeit gekommen war. -
Ich sah mich nach einer Ausbildung um. Schon immer wollte ich Schwester werden und Menschen in Not helfen. Durch die schweren Jahre war der Wunsch noch verstärkt. Am 2. August 1948 trat ich in die Schwesternschaft des Diakonissen-Mutterhauses Salem in Berlin-Lichtenrade ein. Seit dieser Zeit lebe ich in dieser Glaubens-, Lebens- und Dienstgemeinschaft. Dankbar blicke ich auf die Jahre zurück. Es war für mich ein reiches, erfülltes Leben.