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Abschied von Großtuchen und Neubeginn in Brandenburg
Ende Februar 1945 hörten wir in Großtuchen das Donnergrollen der immer näher kommenden Ostfront. Flüchtlinge aus Ostpreußen waren in den Wochen vorher mit Plan-wagen, die von Pferden gezogen wurden, einzeln oder in kleinen Trecks durch unser Dorf gezogen. Nie hatten wir daran gedacht, daß wir nun selber auf die Flucht gehen müßten. Am Abend des 3. März 1945 war es soweit. Mein Vater wäre am liebsten in seinem Haus geblieben. Er sagte: "Wo sollen wir denn noch hin?" Die russische Armee hatte ja die Ostfront durchbrochen und stand mit der Panzerspitze fast an der Oder. Meine Mutter, meine Geschwister Käte, Ruth, Erwin und ich konnten Vater überzeugen, und so wurde in aller Eile einiges zusammengepackt: Federbetten, Kleidung und Lebensmittel wurden auf dem Wagen verstaut, den unser Pferd ziehen mußte. Wir gingen neben dem Wagen her. Mit uns flüchtete Familie Gustav Gutzmann (die Schwiegereltern von Käte).
Geordnete Trecks, wie sie noch vor einigen Tagen vorgesehen waren, gab es nicht mehr. Wir waren nur einige Kilometer gefahren und standen dann bereits im Stau. Immer wieder wurden wir umgeleitet und kamen sehr langsam voran. Wir übernachteten auf Strohlagern in Ställen und Scheunen und einmal auch in einer Brauerei. An einem Tag zog eine Gruppe russischer Kriegsgefangener an dem stehenden Treck vorbei. Weil die Russen nicht schnell genug liefen, wurde einer aus der Gruppe, wohl der letzte, erschossen. Fast alle haben das mit großem Entsetzen registriert und waren sehr betroffen.
Am 8. März, wir waren erst wenige Kilometer vorangekommen, standen wir wieder im Stau. Es war sehr ruhig. Auf einmal hörte man immer lauter werdendes Kettenrauschen. Es waren die Panzer, die auf unserer Straße anrollten. Ich dachte in diesem Moment: "Nun ist alles aus und vorbei." Wir verließen die Straße und gingen einige Meter in den Wald.
Hier verscharrte ich meinen Wehrpaß. (Ich war mit 16 Jahren gemustert worden, brauchte aber nicht mehr den Wehrdienst anzutreten, da die Ausbildungskaserne in Westpreußen Anfang Februar bereits von den Russen erobert worden war.) Einer der ersten Panzer hielt neben unserem Wagen. Zwei russische Soldaten stiegen aus und nahmen den Männern die vorhandenen Taschenuhren ab. Wir kehrten um und versuchten, schnell von der Straße runter zu kommen. Auf dem kleinen Gutshof Ganske fand unsere Familie mit sechs Personen in einem Raum Unterkunft. In den kleinen Gutsarbeiterhäusern hatten oft mehrere Familien Unterschlupf gefunden. Die Nachhut der russischen Truppen ließ nicht lang auf sich warten. Plünderungen und Vergewaltigungen kamen fast täglich vor.
Nach etwa acht Tagen machten wir uns mit Pferd und Wagen auf den Heimweg. Familie Dunse ging mit uns. Doch unsere Heimfahrt führte nicht zum Ziel. Russische Soldaten holten uns von der Straße in ein völlig verwüstetes Haus, vergewaltigten Frauen und machten sich dann wieder aus dem Staub. Wir hatten Angst, weiter zu fahren und kehrten nach Ganske zurück. Von hier wurden einige Tage später alle Flüchtlinge vertrieben und auf die Straße geschickt. Nach wenigen Kilometern wurden alle Wagen gestoppt. Die jüngeren Arbeitsfähigen wurden ausgesondert. Ruth (15 Jahre) und Erwin (13 Jahre) blieben bei den Eltern und fuhren weiter. Käte und ich kamen zu der Gruppe der Ausgesonderten.
Wir wußten nicht, was mit uns geschehen sollte. Wir wurden streng bewacht, zogen durch verschiedene Landkreise, übernachteten in Scheunen, in Schlawe im Gefängnis (36 Personen in einer Zelle), landeten schließlich in Stolp in einem großen Speicher. Es waren einige hundert Menschen auf jeder Etage. Ich konnte jeden Tag meine Schwester, die im unteren Stockwerk untergebracht war, kurz sprechen. Wir haben uns gegenseitig Mut zugesprochen. Man sprach davon, daß wir nach Rußland abtransportiert würden. In dieser Zeit habe ich bewußter im Neuen Testament gelesen und regelmäßig gebetet. Wir wurden registriert, auf Arbeitstauglichkeit untersucht und verhört. Warum ich nach ungefähr vierwöchiger Gefangenschaft plötzlich entlassen wurde, weiß ich nicht. Vielleicht war es mein jungenhaftes Aussehen. Aber es sind noch jüngere Frauen und Männer nach Rußland verschleppt worden.
Mit einem jungen Forstgehilfen aus Ostpreußen, er war krank und auch entlassen, gingen wir von Stolp in Richtung Großtuchen. Nach einiger Zeit trafen wir meine Schwester Käte, die schwach und krank am Straßenrand saß. Sie war ebenfalls entlassen worden. Wie glücklich waren wir über dieses Zusammentreffen. Ich konnte unser beider Gepäck ganz gut tragen. Unterwegs erfuhren wir, daß unsere Eltern in Zezenow anzutreffen seien. So kamen wir am 12. Mai, dem Geburtstag unserer Mutter, dorthin.
Mit Fahrrädern ohne Bereifung machten wir uns auf den Weg nach Großtuchen. (Pferd und Wagen besaßen wir nicht mehr.) In Damsdorf klaute uns die polnische Miliz die bescheidenen Fahrräder. Wir konnten einen Teil unserer wenigen Habseligkeiten auf den zweirädrigen Karren von Herrn Winkel aus Neuhütten laden und den Rest auf den Rücken nach Hause tragen. In unserem Haus fanden wir nur noch einige Möbelstücke vor, aber wir waren froh, wieder daheim zu sein. Mit dem Spaten pflanzten wir noch schnell Kartoffeln, die etwa am 20. Mai in die Erde kamen und dennoch einen recht guten Ertrag brachten. Doch geerntet wurden sie vom Polen Roggenbug , der inzwischen unseren Hof und das Land in Besitz genommen hatte.
Meine Eltern, Käte, Ruth und Erwin wohnten nun in den beiden Kammern auf dem Boden. Ich selbst arbeitete beim Polen Maikowski, der auf dem Grundstück von Albert Schlutt wohnte. Als ich dort mit der Arbeit begann, sagte er zu den Eltern: "Wenn er gut arbeitet und nicht klaut, soll er es gut bei mir haben." Im Sommer habe ich von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends gearbeitet mit kleinen Unterbrechungen für die Mahlzeiten. Doch am Sonntag hatte ich frei. Für die Eltern konnte ich immer ein großes selbstgebackenes wohlschmeckendes Bauernbrot und eine Kanne Milch mit nach Hause nehmen, manchmal auch etwas Butter. Zum Weihnachtsfest bekam ich eine Gans. Diese Art Bezahlung mit Lebensmitteln war damals sicher eine Ausnahme bei polnischen Arbeitgebern. Meine Geschwister waren dagegen oft Schikanen und der Willkür ihrer Polen ausgesetzt. Sie mußten am Sonntag wie im Alltag arbeiten und im Winter durch tiefen Schnee in Holzpantinen zur Arbeit gehen.
1946 haben wohl unsere Arbeitgeber unsere Ausreise verhindert. Doch im September 1947 erfüllte sich der ersehnte Wunsch: Wir durften ausreisen. Ab Bütow ging es im Güterwagen durch Pommern ins Lager Stettin-Scheune und nach einigen Tagen weiter bei Forst über die Grenze ins Flüchtlingslager Saalow, Kreis Teltow. Plünderungen und andere Übergriffe von den Polen, wie sie die Großtuchener, die vor uns reisen durften, erlebt haben, sind uns erspart geblieben. Wir wurden in die Gemeinde Ludwigsfelde bei Berlin eingewiesen. Die Besitzerin einer Villa, die sie allein mit ihrer Hausgehilfin bewohnte, wollte das uns von der Gemeinde zugewiesene Zimmer nicht bereitstellen. Sie mußte dazu gezwungen werden. So konnten wir das Zimmer und zwei Kellerräume beziehen.
Möbel haben Vater und ich aus Brettern hergestellt, die wir aus dem gesprengten Daimler-Benz-Flugzeugmotorenwerk mitnehmen konnten. Ich habe dort ein Jahr lang Ziegelsteine geputzt. Nach der Arbeitszeit habe ich Vater und Erwin geholfen, aus Kiefernwurzeln Kartoffelkörbe, Futterkiepen und Brotkörbe herzustellen. Diese haben Vater und Erwin bei den Bauern auf dem Land gegen Kartoffeln, Möhren, Mehl oder Brot getauscht. Damit wurde unsere sehr knappe Ernährung etwas verbessert.
Im Herbst 1948 begann ich die sechsjährige Ausbildung zum Diakon im Johannesstift in Berlin-Spandau. Im Frühjahr 1954 wurde ich als Jugenddiakon in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Hasbergen bei Delmenhorst angestellt. Danach war ich in einem Heim für Nichtseßhafte und Geistigbehinderte in der Arbeiterkolonie Dauelsberg in Delmenhorst tätig. Anschließend wurde ich Propsteijugendwart im Kirchenkreis Goslar. 1980 hat mich die Braunschweiger Landeskirche ins Pfarramt nach Astfeld berufen. Seit 1991 bin ich im Ruhestand.
1955 heiratete ich meine Frau Ruth. Sie stammt aus Nürnberg. Wir haben fünf Söhne. Die beiden Ältesten sind Pastoren, einer arbeitet in Berlin als Diakon mit Aidskranken, einer ist Propsteijugendwart in unserer Landeskirche und einer ist Uhrmacher in Goslar.
Mir hat meine Arbeit immer viel Freude gemacht. Wenn wir in Großtuchen hätten bleiben können, wäre mein Lebensweg sehr viel bescheidener verlaufen. Ich kann dankbar auf mein Leben zurückblicken.