Erinnerungen und Gedanken

Willi Mutschall (*1934), An der Vogtei 5, D-50226 Frechen (bei Köln)

Geb.: 7.11.34 (Groß Massowitz) Meine Eltern: Wilhelm Mutschall; Groß Massowitz Berta Mutschall, geb. Schlutt; Groß Tuchen

Erinnerungen und Gedanken über meine, unsere Vertreibung aus der Heimat Pommern

Nachdem wir im Februar 1945 die Flucht antraten, uns aber zu dem Zeitpunkt zu spät "grünes Licht" für die Flucht nach dem Westen Deutschlands gegeben wurde, konnten wir die russische Einkesselung nicht mehr überwinden. Unser Treck wurde abgedrängt; aus dem Raum Kolberg - Köslin wurden wir immer weiter nach Osten abgeschoben, bis wir ca. 20 km vor Neustadt in Zamostne von der russischen Front überrollt wurden. Wir wurden nach Hause zurück geschickt. Unterwegs wurden mein Vater und zwei meiner Geschwister von uns getrennt. Meine Schwester Elli kam nach geraumer Zeit krank nach Großmassowitz zurück, ist aber dann mit meiner Schwester Adelheid an Diphtherie gestorben. Meine Schwester Frieda ist 1949 von Sibirien wieder zurückgekommen. (Sie kam zu uns nach Frechen.) Meinen Vater haben die Polen verschleppt; man hat uns nie mitgeteilt, wann und wo er verstorben ist. Nach Jahren haben wir unseren Vater für tot erklären lassen.

Im Herbst kamen Kongreßpolen auf unser Gehöft; dadurch verschärfte sich für uns die Situation, und ich mußte zu einem anderen Polen zur Arbeit gehen. Im Sommer 1946 wurden wir urplötzlich um drei Uhr in der Nacht geweckt und mußten bis sechs Uhr in der Früh unseren Hof verlassen haben. Von einer kleinen Sammelstelle in Großtuchen, an der Molkerei, haben wir von der polnischen Miliz noch eine böse Abschiedsrede zu hören bekommen. Ich erinnere mich noch an die Worte des Milizionärs: "Jetzt kommt ihr Nazischweine in ein Land, wo ihr die Sprache verlernen und ihr nicht mehr zurückkommen werdet". Danach ging es nach Bütow in ein Wartelager für den Abtransport. Das Wort "Abtransport" habe ich bewußt gewählt, da es im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich war; denn wir fuhren ein ganzes Stück des Weges nach Osten, weil in westlicher Richtung die Gleise von den Russen abgebaut worden waren. Nachdem wir 6 Wochen in Stettin im Lager waren, das Lagerleben mit all seinen Entbehrungen, Krankheiten und Ängsten überstanden und überlebt hatten, ging es weiter Richtung Westen.

Von Stettin aus wurden wir von einem britischen Parlamentär abgeholt und durch die russische Besatzungszone begleitet; dadurch hatten wir doch etwas mehr Ruhe und Ordnung. Es war der letzte Transport, der nach Westdeutschland ging; die nach uns kommenden Transporte blieben alle in der russischen Zone. Wir sind dann kurz Lübeck angefahren, doch Schleswig-Holstein war restlos überfüllt, und so ging es weiter nach Uelzen ins Durchgangslager. In Uelzen wurden wir mit einer großen Läusestaubpistole entlaust und erhielten zum Schluß noch eine Hand voll Pulver auf den Kopf. Da sahen wir richtig lustig aus und so konnten wir das erste Mal nach langer Zeit wieder so richtig lachen. Wir konnten uns zum ersten Mal wieder richtig satt essen und kamen uns wie Biskuitkönige vor.

Von Uelzen ging die Fahrt weiter nach Wipperfürth im Bergischen Land, wo wir 2 Tage blieben. Bei Wipperfürth habe ich die Erinnerung an die hohen Etagenbetten in einer alten Schule. Ich glaube, es waren 4 oder 5 Betten übereinander. Als ich da vor den Betten stand, dachte ich: "Was wird es doch eng in Deutschland; wenn man dort runterfällt, hat man sich sämtliche Knochen gebrochen". Von Wipperfürth wurden wir von einem US Militär-LKW abgeholt. Uns wurde nie gesagt, wo wir nun endgültig hinkämen. Unser Militärlaster wurde von einem jungen Afro-Amerikaner gefahren. Der Wagen war offen, und 50 Personen mußten auf dem offenen Wagen stehend bis Frechen die Fahrt durchstehen. Das schlimmste der Fahrt war, daß der junge Fahrer keine Rücksicht auf Frauen, Kinder und alte Menschen nahm. Durch die Serpentinen des Bergischen Landes hat er uns noch mal so richtig das Fürchten gelehrt. 50 Personen auf einer offenen Ladefläche in den Kurven; das war, als wenn wir ausgeschüttet werden sollten. Den Rhein überquerten wir in Köln über eine Notbrücke (Pontonbrücke), wo heute die Zoobrücke ist. Es ging weiter durch die Innenstadt. Den Anblick so vieler Ruinen hatte ich noch nie erlebt. Er war mir unheimlich und hat mich sehr traurig gestimmt. Aus breiten Prachtstraßen waren schmale, einspurige Fahrbahnen entstanden. Als wir den Rhein überquert hatten, hatte ich das Gefühl, jetzt sind wir wieder bald aus Deutschland raus, wie am Anfang der Odyssee von Bütow. Daß wir ganz woanders waren, habe ich auch an dem fremdartigen Gemüse festgestellt, welches ich zwischen Köln und Frechen gesehen habe. Es stellte sich später als Porree heraus.

In Frechen auf dem Bahnhof wurden wir begrüßt und uns wurde das erste Mal gesagt: "Hier könnt ihr bleiben!" Nachdem wir uns mit süßer Biskuitsuppe vollgestopft hatten, kam schon wieder das Mißtrauen in uns auf, denn es hieß, die Fahrt geht noch ein Stück weiter. Diesmal stimmte es tatsächlich, es waren aber nur 2,5 km bis Frechen-Buschbell. In Buschbell gab es 2 Tanzsäle, Dauben und Herbertz. In jedem Saal waren 100 Leute untergebracht. Nach einem halben Jahr haben wir dann mit 6 Personen ein kleines Mansardenzimmer in Frechen bekommen. Ich bin dem Standort treu geblieben und habe mein Haus 1961 in Frechen-Buschbell gebaut.

Zwei Anmerkungen zu dieser Niederschrift möchte ich noch schriftlich festhalten:

In Buschbell, im Lager, haben wir 200 Personen noch einmal so richtig hungern müssen, und zwar durch den selbsternannten Lagerkommandanten. Er hat unsere kurzen Brotrationen auf dem Schwarzmarkt für Spirituosen und Zigaretten verschoben, die er anschließend mit Frauen, die ihm gefielen, verjubelte. Als ich den "Herrn Lagerkommandanten" mal auf der Straße traf, sagte ich ihm: "Herr Lagerkommandant, ich habe solchen Hunger, wann gibt es wieder etwas zu essen?" Da sagte er: "Junge, das Schiff mit dem Weizen aus Amerika ist untergegangen und wenn wieder eins kommt, gibt es wieder zu essen." Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei ist dann der Lagerkommandant kopfüber durch das Oberlicht im Saal Dauben für immer verschwunden. Wir bekamen wieder unsere Brotration.

Abschließend und als zweite Anmerkung möchte ich hier festhalten, daß ich alle Greueltaten und schlimmsten Eindrücke nicht niedergeschrieben habe. Das ist Vergangenheit, meine Vergangenheit! Sie hat aber meine Persönlichkeit für die Zukunft für immer geformt.

Frechen, den 23.02.96