Helene Podelleck geb. Roeschke Lüchow, den 13. Febr. 1995 Grabenstraße 7 29439 Lüchow Tel. 05841-2080
Vertreibung aus der Heimat
In der Nacht vom 1. 3. auf den 2. 3. 1945 mußten wir unseren Heimatort Großtuchen verlassen. Wir hatten Glück. Es waren noch Soldaten im Ort. Sie nahmen Frau Jonas, ihre beiden Kinder, eine Familie Fredrich, die aus Berlin evakuiert war, meinen Vater und mich mit. Meine Mutter war bereits mit meiner Schwester Selma zu meiner ältesten Schwester nach Köslin gegangen.
Wir fuhren im offenen Lastwagen bis in den Kreis Lauenburg. In Pommern war der Russe schon so weit vorgestoßen, daß wir auf dem Landwege nicht mehr herauskamen. Um den Schimmritzberg wurde hart gekämpft. Alles war ein Feuerschein. Es war grimmig kalt. Glücklicherweise durften wir auf einem Gut - im Stall - die Nacht verbringen. Am anderen Morgen nahmen uns die Soldaten Richtung Gotenhafen mit. Da wir des öfteren von russischen Fliegern angegriffen wurden, mußten wir stundenlang in Panzergräben liegen. Dies wiederholte sich sehr oft. Es verging eine gute Woche, bis wir endlich Gotenhafen erreicht hatten. Da haben wir dann bei den Soldaten im Vorfeld gelegen. Die Kälte machte uns sehr zu schaffen. Außerdem hatten wir kaum etwas zu essen. Die Soldaten gaben uns wohl etwas ab, aber auch sie hatten nicht mehr viel Vorrat. Endlich bekamen wir Unterkunft in einem leerstehenden Haus. Aber die Luftangriffe und der Artilleriebeschuß nahmen zu. Wir waren vollkommen hilflos. Unter diesen Bedingungen mußten wir wochenlang ausharren. Es hieß, die Flüchtlinge werden per Schiff rausgebracht.
Es war bis zum Hafen sehr weit, aber wir gingen fast täglich, um zu sehen, ob ein Schiff da war. Meistens waren unsere Wege vergebens. Wir haben viele Angriffe ertragen müssen. Allmählich verloren wir auch den Mut. In Mengen lagen Menschen mit ihren Pferdegespannen getötet auf den Straßen. Es waren überwiegend Flüchtlinge aus Ostpreußen. Der Anblick war grausam. Endlich war im Hafenbecken das Schiff "Bukarest" eingetroffen. Es sollte verwundete Soldaten und Frauen mit Kindern mitnehmen. Zum Glück nahmen sie auch meinen Vater und die beiden Familien Jonas und Fredrich mit. Aber unser Gepäck mußten wir zurücklassen.
Das Schiff war vollkommen überladen. Unten im Schiff lagen tausend Pferde, dann die Soldaten, Flüchtlinge und an Deck Kriegsfahrzeuge. Uns war alles gleich. Die Kräfte und der Mut hatten uns verlassen. Dazu die Kälte und keine Verpflegung. Am schlimmsten war, daß wir nichts zu trinken hatten. Im Vorfeld in Gotenhafen hatten wir uns wenigstens noch dreckigen Schnee aufgetaut und erhitzen können. Erstaunlich, wie man das alles überstanden hat. Es gibt Erlebnisse aus dieser Zeit, die man nicht beschreiben kann; sie tun heute noch weh.
Als wir endlich an der Insel Hela vorbei waren, wurden wir von englischen Fliegern und russischen U-Booten angegriffen. Jedesmal wurde unser Schiff eingenebelt. Das gab Atemnot. Als wir in der Nähe von Swinemünde waren, wurden wir umgeladen auf kleine Schiffe. Ein sehr gefährliches Unternehmen. Viele ertranken. Wie viele es waren, weiß ich nicht.
Dann kamen wir nach Ückermünde. Dort hausten wir in einer Turnhalle - auf Stroh, das erbärmlich stank. Aber hier erhielten wir eine warme Mahlzeit aus der Feldküche. Allerdings mußten wir einen Behälter mitbringen. Wir hatten weder Napf noch Löffel. So klingelte ich in meiner Not an einem Haus und erhielt zur Antwort, im Sandkasten hätten die Kinder Löffel verbuddelt. Vor Schreck konnte ich nichts sagen. Das war nun die Hilfsbereitschaft unserer Deutschen! Weitere Einzelheiten aufzuführen, wäre endlos.
Nach ein paar Tagen wurden wir in zerschossenen Eisenbahnwagen weitertransportiert. Die Nacht verbrachten wir in Salzwedel auf dem Bahnhof. Am nächsten Tag ging es weiter nach Lüchow. Untergebracht wurden wir wieder in einem Massenquartier auf Stroh. Nun war es schon Ende April.
Auch in Lüchow gab es oft Fliegerangriffe, aber wir haben überlebt. Wir standen vor dem Nichts. Außer dem, was wir am Körper trugen, besaßen wir nichts.
Im Juni bekamen mein Vater und ich eine kleine Kammer neben einem Stall. Es war men-schenunwürdig, aber wir waren allein. Wir versuchten zunächst, das Ungeziefer loszuwerden. Es dauerte sehr lange, denn es fehlte ja die Wäsche zum Wechseln. Trotzdem hatten wir Hoffnung, daß es besser werden würde, obwohl die Not überall sehr groß war.
Im September 1946 kam mein Mann nach fast siebenjähriger englischer Gefangenschaft zurück. Im Dezember 1945 hatten wir meine Mutter wieder in unsere Arme schließen können. Der Neuanfang war sehr schwer. Gottes Beistand hat uns aber wieder in ein normales Leben geführt.
Helene Podelleck geb. Roeschke