Ich war kaum fünf!


Heinz Radde

Küttigen/Schweiz, Weihnachten 1994
früher: Groß Tuchen (Obermühle)

Bild: Der Autor mit 5 Jahren 1947 kurz nach der Vertreibung


Erinnerungen nach fast einem halben Jahrhundert an das Kriegsende
in Groß Tuchen/Pommern, die Zeit danach und die Deportation
nach Mitteldeutschland.


Ich wurde Anfang 1942 als jüngstes von 4 Kindern des Bauern Paul Radde und seiner Frau Emma, geborene Schütz, in Groß Tuchen geboren. Mein Familie wurde Mitte Dezember 1946 aus Groß Tuchen vertrieben. Heute lebe ich mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern in Küttigen im Schweizer Kanton Aargau.

Willkür und Terror

Mein Vater war im März 1945 als gefangener Volkssturmmann von den Russen erschossen worden, ebenso mein Großvater als Zivilist. Unser Hof war ein sehr einsamer, sogenannter Abbau weitab vom Dorf. Wir waren der Willkür von Russen und Polen ausgesetzt und lebten in ständiger Angst.
Unsere schwangere Nachbarin Frau Pelz wurde März 1945 erschossen. Es gab Plünderungen, Vergewaltigungen und Überfälle, tags und nachts. Manchmal fuhren Wagen vor, auf die polnische Plünderer alles vom Federbett bis zur Kindertasse aufluden. Manchmal wurde wild herumgeschossen. Einmal machte sich ein Pole, der sich später unseren Hof nahm, ein Sonntagsvergnügen daraus, seinen großen Hund auf unseren kleinen Pfiffi zu hetzen und diesen fast zu Tode beißen zu lassen. Wir wurden gezwungen, dabei zuzuschauen.
Meine Mutter mußte sich lange Zeit nachts etwa 8 km durch die Wälder nach Klein Massowitz schleichen, um Straßen zu meiden. Sie pflegte dort ihre kranke Mutter bis zu deren Tode im Februar 1946 und begrub sie heimlich und allein. Deren Mann war ja bereits von einem plündernden Russen im März 1945 ermordet worden und hatte sein Grab im Garten gefunden, weil niemand sich auf den Friedhof wagte.


Raus über die Oder!

So empfanden wir den Befehl zum Verlassen unseres Hofes als erlösend.
Bei Beginn der Vertreibung war ich gerade 4 ¾ Jahre alt. Daher sind meine Erinnerungen natürlich sehr lückenhaft und vielleicht nicht exakt. Einige Momente aber haben sich dennoch fest für immer eingeprägt:

An einem kalten klaren Wintermorgen am 16. Dezember 1946 mußte meine Mutter sich mit uns vier Kindern, der Oma, zwei Tanten, einer Cousine und einem Cousin im Dorf einfinden. Jeder hatte ein Gepäckstück mit. Ich war zu klein zum Tragen, so zog ich einen Schulranzen an einem langem Riemen wie einen Schlitten auf dem knirschenden Schnee hinter mir her.

Wir waren tagelang in Viehwaggons eingepfercht, und es war bitterkalt. Manchen erfroren Hände oder Zehe. Meine Mutter schlief kaum und hat uns Kinder die ganze Nacht Hände und Zehen gerieben.

Manchmal blieb der Zug lange auf Nebengleisen oder einfach auch auf der Strecke stehen. polnische Banden oder russische Soldaten überfielen dann den Zug und waren auf alle Habseligkeiten, besonders auf Wertsachen oder auch auf Frauen, aus. Mit uns im Waggon waren Männer, die mit allen Kräften und mit Stangen die Rolltüren von innen zuzuhalten versuchten. Ich hatte große Angst.

Plötzlich gab es ein aufgeregtes Geschrei im Zug: "Die Oder! Die Oder!" Ich habe ein Bild in Erinnerung, das sich aus der leicht geöffneten Waggontür im Morgengrauen bot: Der Zug ratterte über eine große Brücke, die eine Stahlkonstruktion war und eine flache Flußlandschaft überspannte. Alle waren voller Freude und fühlten sich gerettet.

Dann kamen wir in die Lager Coswig/Anhalt, Staßfurt ("Salzgraf") und Aken a.d. Elbe ("Schwarzer Bär"). Denke ich an Coswig und Staßfurt, so denke ich an ständigen Hunger und an Kälte. Viele starben. Den Geschmack von erfrorenen Möhren und heißem Wasser mit einigen Graupen darin werde ich nie vergessen. Milch gab es natürlich keine. Erwachsene sagten untereinander über mich: "Den Kleinen werden wir wohl nicht durchbekommen." Merkwürdigerweise habe ich noch deutlich das Bild des Daches im großen Saal des "Salzgrafen" in Erinnerung. Darin waren Ritzen, durch die man den Mond scheinen sah, wenn wir nachts frierend unter unseren dünnen Decken lagen.


Süßer die Glocken nie klingen

Unsere Mutter bemühte sich sehr intensiv und schließlich erfolgreich darum, eine private Wohnung zu bekommen. Im Laufe des Jahres 1947 erhielten wir in Aken an der Elbe (Sachsen-Anhalt) zu fünft zwei winzige Dachräume mit schrägen Wänden in einem an sich netten Haus in einer Vorstadtsiedlung. Ein Raum war Küche und Mutters Schlafzimmer, der andere Wohnzimmer und Schlafzimmer für uns vier Kinder. Möbel waren nicht darin. Als Beleuchtung gab es nur Kerzen, die sehr sorgfältig und sparsam verwendet wurden. Ein lieber Nachbar schreinerte aus Brettern einen einfachen Schrank mit vier Fächern und schenkte uns diesen. Jedes Kind bekam ein eigenes Fach. Das war schon so etwas wie Luxus.

Wir hatten ständig Hunger. Die Großen versuchten, einige Kartoffeln und Getreideähren zu "stoppeln". Von dem bitteren Geschmack der Gerichte, die nur aus Kartoffelschalen bestanden, schaudert es mich noch heute. Manchmal gab es auch nur Sauerampfer vom Elbdamm, sonntags dazu einen Klecks Sahne (woher die kam, kann ich mir heute nicht mehr erklären).

Dann kam das erste Paket aus Amerika. Unsere Mutter hatte den Kontakt mit ihrem Bruder in Oklahoma wieder herstellen können. Ich sah mit fünf zum ersten Mal Schokolade und weigerte mich zunächst, das merkwürdige dunkle Zeug zu essen.
Mutter saß Nacht für Nacht, nähte und änderte, um aus den abgelegten amerikanischen Kleidungsstücken und Stiefeln etwas zum Anziehen für uns Kinder und zum Handeln zu fertigen.

Am Heiligabend 1947 schickte uns Mutter nachmittags zum Krippenspiel in den Gemeindesaal der evangelischen Kirche in der Stadt. Am Abend gingen wir Kinder dann den langen Weg zu unserer Wohnung in der Siedlung zurück. Da sahen wir in der Dunkelheit schon von weitem ein strahlend helles Licht dort, wo unsere Dachkammern sein mußten. Unsere Mutter hatte den gesamten Kaffee aus den Paketen aus Amerika aufgespart und dafür Bücher, etwas Spielzeug und sogar eine richtige elektrische Glühlampe erhandeln können. Nie wieder im Leben erschien mir eine Festbeleuchtung so hell und prächtig wie damals!


Wo ist Heimat?

Von da an wurde es langsam besser. Die Jahre waren gezeichnet durch harte Arbeit besonders für unsere Mutter. Viele gute Menschen halfen. Aber es gab auch hartherzige.
Für manche "Hiesige" blieben wir, wie andere in unserer Situation auch, immer die "Flüchtlinge". So richtig heimisch wurde in Aken eigentlich nur meine Schwester Edith, die dort eine Familie gründete.
Die Oma, die Tante, unsere Mutter und mein Bruder Ulrich sind inzwischen verstorben. Mein Bruder Karl und ich verließen die Stadt in der Jugend zum Studium und blieben für immer fort.

Das damals in der russischen Zone bzw. DDR herrschende kommunistische System hatte neben "Vertriebene" und "Flüchtlinge" einen dritten, den beschönigenden offiziellen Begriff "Umsiedler" für uns.
Bald nach der politischen Wende 1989 war ich wieder einmal in Aken und traf dort meinen alten Erdkundelehrer. Wir erinnerten uns, daß wir in der Schule oft miteinander heftig über den Begriff "Heimat" gestritten hatten. Pflichtgemäß hatte er mich damals zu überzeugen versucht, daß Aken meine Heimat sei, weil ich als "Umsiedler" dort aufwuchs. Ich aber hätte eigensinnig darauf beharrt, daß Pommern meine Heimat sei, weil alle meine Vorfahren dort gelebt haben, ich dort geboren wurde und nicht freiwillig von dort weggegangen bin.
Obwohl ich kaum fünf war.


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Groß Tuchen und Bütow: Dorf und Kreis in Hinterpommern