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Abschied und
Wiedersehen
Erinnerungen
eines damals 12jährigen Als ab Oktober 1945 die ersten Großtuchener nach der
Rückkehr von der Flucht im März zum zweiten Mal den Weg in das große
Ungewisse antraten - bei uns auf der Obermühle waren es die Familien
Pelz und Basowske - , stand für uns fest: "Wir bleiben hier!" *) Für diese Entscheidung gab es mehrere Gründe. Daß unser Bütower Land in Ostpommern jemals ganz von Deutschland abgetrennt werden könnte, war für uns unvorstellbar. Die Russen waren im Herbst bei Nacht und Nebel abgezogen, und die Polen kamen nur zögernd. Sie wußten: Den Deutschen gehörte das Land, die Russen hatten es erobert, sie sollten es nun verwalten. Aber wie lange? Es war eine ungewisse Sache, dieses Potsdamer Abkommen mit seinen vagen Festlegungen über die endgültige Grenzziehung in einem späteren Friedensvertrag. Bekannte Polen aus Glisno, die damals vom Westen zurückkamen, bestärkten uns in unserem Glauben und rieten dringend ab fortzugehen. "Was wollt ihr 'hinter der Oder'? Überall herrscht Hungersnot. In Hamburg liegt nicht mehr ein Stein auf dem anderen. Es dauert mindestens zehn Jahre, bis Deutschland wieder bewohnbar ist. Bleibt bloß, wo ihr seid", empfahlen sie uns. Und schließlich warteten wir jeden Tag darauf, daß unser
Vater nach Hause kommt. Sicher würde er kommen. Das war für uns nur
eine Frage der Zeit. Von seinen Kameraden Leike vom Ortsteil Dalleken
aus Großtuchen und Schamuhns aus Zemmen wußten wir, daß er Anfang März
vor Schlawe leicht verwundet wurde, und daß sie ihn in ein Lazarett
gebracht hatten. Verwundete standen ja unter dem Schutz des Roten
Kreuzes, so dachten wir damals noch von den Siegern trotz der vielen
Toten, die wir auf unserem Treck im März bei Stolp und Lauenburg
gesehen hatten. Wohin sollte er sonst gehen, wenn nicht nach Großtuchen...? Ich hatte es besser als zu Hause. Die Brodzas waren kinderlos und betrachteten mich als eigenen Sohn. Sie gewährten mir Freiheiten, von denen ich sonst nur träumen konnte. Stundenlang durfte ich meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen und Bücher lesen. Sie hatten die von Polzins über-nommenen deutschen Bücher sorgsam aufbewahrt. Jeden Monat erhielt ich sogar noch einen kleinen Lohn in Zloty. Kein Deutscher hatte diese Privilegien. Meine Cousine Traute hatte es dagegen schon schwerer bei dem Dorfmilizionär, aber gerecht wurde auch sie behandelt. Unsere Probleme dagegen waren mehr objektiver Art. Im Winter lag bei uns viel Schnee. Oft "stühmte" es derart, daß es zu hohen Schneeverwehungen kam. Wenn der Schnee taute, kamen wir mit unseren selbstgefertigten Holzpantoffeln kaum voran, denn Schuhe hatten wir nach den zuerst russischen und danach polnischen Ausplünderungen schon lange nicht mehr. Der nasse Schnee backte zu Klumpen an unseren Pantoffeln. Aus Furcht, zu spät zur Arbeit zu kommen, liefen wir dann einfach auf Strümpfen durch den nassen Schnee. Heute wissen wir, woher wir unseren Rheumatismus haben. Eines Tages bemerkte Pan Brodza, es wäre nicht gut, wenn wir immer nur deutsch sprechen. Ich müßte Polnisch lernen. Das wäre in dieser Zeit für mich nur von Vorteil. Wenn ich wollte, würde er mir Polnisch beibringen, aber nur, wenn ich es wollte, betonte er immer wieder. Und wie ich wollte! So begannen wir mit systematischem "Sprachunterricht". Der erste Satz, den ich von ihm lernte, war "Chodó na obiad" (Komm Mittag essen) und ist für mich immer symptomatisch für diesen Polen geblieben. Er selbst hatte 1939 im deutschen Lager als erstes gelernt: " An die Arbeit, marsch, marsch!". Noch heute profitiere ich von diesem Spracherwerb. Und er lehrte mich manche nützliche Dinge; vor allem aber,
wie man überleben kann, wenn man der Nation angehört, die für Auschwitz
verantwortlich sein soll und für Stutthof. Aber auch er konnte nicht
verhindern, wenn ich manchmal von polnischen Jungen deswegen geschlagen
wurde und daß wir eines Tages vertrieben wurden, wie man lästige Hunde
vertreibt. Unser Jerzy jedenfalls war angeblich in einem KZ gewesen und er hatte Berlin mit eingenommen und rühmte sich, in Gefechten meist nur wenige Gefangene gemacht zu haben. Wir haßten ihn deswegen und hielten ihn für einen Lügner. Mit zehn Personen wurden wir jetzt in zwei Räumen zusammengedrängt, in denen auch schon die Ratten hausten. Wir Kinder hatten schon fast 2 Jahre keine Schule mehr. Zwar hatte meine Mutter bei uns heimlich eine Art Sonntagsschule eingeführt, und wir lernten eifrig, vor allem Verse aus dem Gesangbuch, oder übten deutsche Diktate, aber ein richtiger Unterricht wie bei unseren Lehrern, Fräulein Schwichtenberg, Herrn Mauß oder Sorgatz, war das natürlich nicht. Allmählich gingen auch die Lebensmittelvorräte zur Neige, und wir hatten kaum noch Kleidung und Schuhwerk. Nur der polnische Bürgermeister ließ uns stillschweigend immer wieder mal einen halben Sack Mehl zukommen. Solange er Bürgermeister in Großtuchen sei, würde kein Deutscher hungern, erklärte er. Diese Haltung eines Vertreters der neuen Macht war für uns einmalig und unverständlich, denn er war im KZ Stutthoff gewesen, von Deutschen eingesperrt. Für uns wurde es jetzt immer eindeutiger: Wir müssen heraus, wenn wir nicht als Fremdarbeiter und Gefangene unter Polen leben wollen. Wir waren in unserer seit 800 Jahre deutschen Heimat nicht mehr zu Hause. Alle gutgemeinten Angebote zur Einpolung hatte meine Mutter kategorisch abgelehnt. Unerwartet erhielten wir dann gewissermaßen über Nacht die Aufforderung, in zwei Tagen un-ser Dorf zu verlassen. Die Aufregung war groß. Auch bei den polnischen Nachbarn. Der Aufbruch war auf den 16. Dezember 1946 festgelegt. Josef Durawa, unser kaschubische Nachbar, der in der Zeit der Flucht auf dem Treck im März 1945 bis hinter Lauenburg [vor Neustadt in Westpreußen nicht weit von Gdingen] und auch später unser zuverlässiger Beschützer war, sollte uns mit unserem Gepäck in die Kreisstadt Bütow bringen. 25 kg pro Person war die erlaubte Höchstnorm. In der letzten Nacht schlief niemand mehr. Auch unser Pole
Jerzy saß die ganze Zeit mit uns zusammen, war wie umgewandelt und
erklärte, daß er jetzt auch gehen werde. Er ließ seine letzte Ente
braten, damit wir noch etwas zu essen mitnehmen konnten. Beim Abschied
waren Tränen in seinen Augen. "Das haben wir nicht gewollt", meinte
selbst dieser Deutschenhasser. Als ich nach 12 Jahren wiederkam, erzählte mir unsere Nachbarin, Frau Anastasia Jastszemska, eine Ukrainerin, die 1942 als Sechzehnjährige von Deutschen aus ihrer Heimat nach Großtuchen verschleppt worden war, und die unseren Auszug beobachtet hatte, sie hätte nie etwas Traurigeres im Leben gesehen. Drei Tage lang hatte sie geweint: "Das kann man den Deutschen doch nicht antun!" Wir empfanden es damals nicht so wehmütig, sondern nahmen den Aufbruch als unabänderliches Schicksal auf uns und waren stolz, Deutsche geblieben zu sein, damals! In der Kreisstadt Bütow lagerte man uns bei Minusgraden den ganzen Tag und die folgende Nacht im Freien. Es begann gerade der große Frost, der den bisher kältesten Winter des Jahrhunderts einleiten sollte. Die letzten Zlotys wurden für Wodka ausgegeben, das einzige, was damals zu bekommen war. Es wurde viel getrunken, als Medizin. Selbst den Kindern gab man Alkohol in der verhängnisvollen Ansicht, daß er vor Erfrierungen und den gefürchteten Typhuserkrankungen schützt. Nachmittag wurden wir mit unserem gesamten Gepäck zum Marktplatz getrieben, wo ein Podest aufgebaut war und der Stadtkommandant, ein kleiner untersetzter Mann in voller Uniform mit Litewka, wild gestikulierend, die offizielle Verabschiedungsrede an die deutschen Frauen und Kinder mit der Anrede "Deutsche Schweine..." begann. Und dann ging es los, die totale Hetze gegen alles, was deutsch war. Unter uns riefen sie: "Hört nicht zu! Laßt euch nicht provozieren..." Schließlich hatte man eine junge 35-jährige Frau bei einem vorhergehenden Transport am gleichen Tag noch erschossen, als sie protestiert hatte und gesagt haben soll: "Wartet nur, wenn unsere Männer erst aus der Gefangenschaft kommen...." So verfuhr die neue Macht, die sich Volksmacht nannte, damals mit deutschen Zivilisten. Lebensgefährlich war es aber sonst auch. Aber wir Jungen hörten genau zu, ganz genau; denn wir wollten uns dieses Subjekt merken für die große Revanche bei unserer Rückkehr. Das hatten wir uns geschworen... In der Nacht holte man uns zur Gepäckrevision. Wir wurden unsere gesamten Betten, Decken und sonstigen warmen Sachen los, die wir so dringend in diesem kalten Winter brauchten, und behielten nur, was wir am Körper trugen. Gegen Morgen verlud man uns in schmutzige Viehwaggons: dreißig Personen plus Gepäck in einen Wagen, dessen einzige kleine Luke noch oder schon wieder mit Stacheldraht umgeben war. Die Enge war beängstigend. Zunächst war es noch warm. In jedem Waggon befand sich ein kleiner Kanonenofen mit einem geringen Brikettvorrat. Aber dieser wurde nie ergänzt. Schon in der ersten Nacht war alles verbrannt. Dann wurde es bitterkalt. Selbst die Innenwände der Waggons waren ständig mit einer Eisschicht bedeckt. Acht ganze Tage und Nächte kamen wir nicht aus diesen 'Kühlwaggons' heraus. Manchmal sahen wir auf dem Nebengleis einen Güterzug mit
offenen Wagen voll Briketts, wenn wir mal kurz hielten. Wir Jungen
sprangen dann hinauf und schleuderten so lange Briketts in unseren
Waggon, bis einer der beiden Züge anfuhr. Dann mußten wir blitzschnell
ab- und aufspringen. Das war hoch gefährlich. Es konnte auch sofort
geschossen werden, wenn man uns gesehen hätte. Von den wenigen Männern auf unserem Transport hatten wir in
unserem Wagen die Brüder Schamuhn*) aus Zemmen. Sie organisierten
sofort die Verteidigung. Jeder von uns Jungen erhielt eine bestimmte
Aufgabe. Ich bezog Wachposten auf einem aus mehreren Rucksäcken errichteten Hochsitz und beobachtete das Bahnhofsgelände durch die kleine mit Stacheldraht umwickelte Viehwagenluke. Es passierte stundenlang nichts. Dann brach es los. Die Bahnhofsuhr zeigte genau O.O5 Uhr. Eine Gruppe von 8-10 angetrunkenen, mit Maschinenpistolen bewaffneten Russen stürmte auf den Zug zu und steuerte genau unseren, den zweitletzten Wagen des Zuges an. Ich löste Alarm aus. Jeder sprang an seinen eingewiesenen Platz. Fünf Minuten später waren wir im "Gefecht". Sie versuchten, die Schiebewand unseres Waggons aufzureißen und stutzten. Wir hatten sie von innen fest verrammelt. Ein wildes Gebrüll brach los, Stimmen schrien durcheinander und fluchten. Irgendwo in der nächtlichen Stadt fielen Schüsse. "Otkrowajte, budem streljat", gröhlten sie, macht auf, oder wir schießen .Taschenlampen blitzten auf. Wir ließen das Ultimatum unbeantwortet. Sie rissen immer wieder an der Tür, drohten und schimpften und setzten schließlich Brechstangen ein. Vergeblich. Unsere Verteidigung stand. Einige von uns wollten aufgeben aus Angst, sie töten uns alle. Schamuhns blieben konsequent. Sie gingen davon aus, daß die
Russen hier mitten auf dem Güterbahnhof kaum eine Schießerei beginnen
würden; sie hätten damit die Militärpolizei auf sich gelenkt. Selbst
wenn sie es tun würden, könnten die Kugeln aus ihren Mpi die dicken
Waggonplanken nicht durchschlagen. Die Rechnung ging auf. Mit
furchtbaren Flüchen auf die deutschen "Faschisten , die immer nur
Widerstand leisten" zogen die Russen plötzlich ab. Sie versuchten auch
bei keinem anderen Waggon den Überfall. Es war genau 1.10 Uhr. Über
eine Stunde hatte unser ungleiches Gefecht gedauert. Die ganze Nacht
wechselten wir uns in der Wache ab. Aber es erfolgte kein weiterer
Angriff mehr. Wenn wir auch kaum noch etwas bei uns hatten, was man
plündern konnte, so hatten wir unsere Frauen und Mädchen immerhin vor
schlimmen Dingen geschützt und somit doch noch einen, wenn auch späten
Endsieg über die Russen errungen. So sahen wir Jungen es jedenfalls.
Gefährliche Momente waren das! Niemand nahm damals Notiz von einem
erschlagenen Deutschen. Gefährlich war es auch¸ wenn der Zug auf freier Strecke
hielt. Das konnte stundenlang dauern oder nur einige Minuten. Niemand
wußte es genau, und die Abfahrt wurde nie angekündigt. Wir Jungen
sprangen dann sofort heraus und liefen in die Umgebung, um uns Bewegung
zu verschaffen und zu versuchen, den drohenden Erfrierungen zu
entgehen. Im letzten Augenblick kletterten wir dann auf den anfahrenden
Zug. Einmal hatte sich ein kleinerer, fünfjähriger Junge zu weit von
den Waggons weg gewagt. Wir hatten ihn gewarnt, aber er wollte
unbedingt mit uns "Großen" mit. Der Zug fuhr plötzlich zu schnell an.
Er schaffte es nicht mehr und blieb buchstäblich auf der Strecke. So
wurden immer wieder Familien auseinandergerissen. Jetzt waren wir doch an dem Fluß angekommen, der in jener
Zeit Symbol für Rettung und Freiheit bedeutete. Also doch nicht nach
Sibirien! Ich fuhr hoch und schrie in den Waggon so laut ich konnte:
"Wir sind an der Oder" und kam mir vor wie ein Schiffsjunge, der hoch
oben im Mastkorb nach endloser Fahrt ohne Hoffnung der todgeweihten
Mannschaft eines gekenterten Schiffes das errettende "Land in Sicht"
zuruft. Die Wirkung war die gleiche. Bei Forst in der Niederlausitz rollten wir dann schließlich
über die Oder-Neiße-Linie. Der Zug hielt, die Schiebetüren wurden
aufgerissen. Deutsche Laute drangen ans Ohr. Es wurde deutsch
gesprochen. Man teilte Tee aus und eine warme Suppe. Zum ersten Mal
nach acht Tagen etwas Warmes! Zeitungen wurden in die Waggons gereicht,
deutsche Zeitungen. Waren es auch nur die "Tägliche Rundschau", das
Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, und das kommunistische "Neues
Deutschland", der Inhalt interessierte kaum. Es war die deutsche
Sprache¸ die wir wieder gedruckt vor uns hatten. Fast zwei Jahre lang
waren wir von der Welt abgeschnitten gewesen. Daß öffentlich noch mal
deutsch gesprochen und geschrieben werden durfte! Wir konnten es nicht
fassen. Viele weinten vor Freude. Irgendwie wurden wir eines Nachts nach Staßfurt bei Magdeburg verfrachtet; zwar nicht mehr in Viehwaggons, aber die Züge waren auch hier nicht geheizt, und die Kälte hatte jetzt im Februar 1947 noch zugenommen. Wir waren auf dieser Strecke von 80 km nahezu 20 Stunden bei klirren-dem Frost unterwegs. Unsere Mutter rieb uns Kinder ununterbrochen die Hände, denn die uns von den Polen abgenommenen Decken und Handschuhe konnten nicht ersetzt werden. Vielen erfroren die Hände und Füße. In Staßfurt kamen wir in ein Lager, in dem völlig apathische Rumänen schon seit zwei Jahren auf Rückführung in ihre Heimat warteten. Es gab zeitweise keine Verpflegung mehr. Die Unterkünfte waren eiskalt. Etwas warmes Wasser wurde morgens nur für den Raum ausgegeben, in dem jemand gestorben war. Wir erhielten oft warmes Wasser. In der Nähe befand sich ein mit Stacheldraht gesichertes
russisches Militärgelände, auf dem angeblich für die Schnapsbrennerei
bestimmte Kartoffeln in Mieten gelagert sein sollten. Unter der
bewährten Leitung von Fritz Schamuhn aus Zemmen stellten wir aus
zuverlässigen Leuten einen "Stoßtrupp" auf und marschierten bei dem
nächsten Schneesturm los. Wir durchbrachen den Stacheldrahtverhau und
trafen tatsächlich auf eine Miete. Sie war bereits aufgedeckt. Auch
andere "Stoßtrupps" waren hier offensichtlich schon in Aktion. Jeder
hatte in größter Eile ein paar Pfund Kartoffeln zusammenzulesen, und ab
ging es. In der Nähe bellte ein Hund, ein russischer Soldat fluchte. Es
fielen Schüsse. Ein Feuerstoß aus einer Maschinenpistole jagte über
unsere Köpfe. Wir entkamen und überlebten wieder für ein paar Tage. In kleinen Gruppen brachte man uns auf Lastkraftwagen durch das vom Hochwasser überflutete Harzvorland nach dem kleinen Städtchen Aken an der Elbe bei Dessau.*) Das vierte Lager in einem halben Jahr! Zum ersten Mal aber gab es normale Verpflegung. Die Einheimischen leben hier noch von den Vorräten, welche die Amerikaner großzügig verteilt hatten, als für sie der Krieg an der Elbe zu Ende war. *) Zusammen mit uns waren noch nach Aken gekommen: Aus Großtuchen Frau Hoffmann,unsere Kirchendienerin, mit ihrer Tochter Frieda Kunkel und deren Kinder; die Familien Busch, Krause, Knitter und aus Zemmen die Familien Erich Schamuhn und Erich Böse; aus Kleinmassowitz Familie Paul Müller; aus Radensfelde die Familie Adrian sowie aus Meddersin die Familie Meseg. Wir schienen zum dauernden Lagerleben bestimmt zu sein. Die
Behörden unternahmen nichts. Meine Mutter und meine Tante Minna Radde
gingen daher von Haus zu Haus auf Wohnungssuche. Eines Tages hatten sie
Glück. In einer abgelegenen Gartensiedlung war ein Dachstübchen mit
kleiner Küche freigeworden. Unsere Familie mit 5 Personen erhielt es.
Die Räume waren leer. Aber Gepäck hatten wir ja auch nicht mehr viel.
Lange Zeit schliefen wir auf dem bloßen Fußboden, mit unserem Rucksack
unter dem Kopf, der uns tagsüber als einzige Sitzgelegenheit diente.
Erst nach und nach gelang es, ein paar, meist zerbrochene Schemel, die
niemand mehr haben wollte, zu erhalten oder einzelne primitive
Möbelstücke, die man angeblichen Nazis fortgenommen hatte. Wir Kinder hatten unter mehrfachem Streß zu leiden. Neben dem
Hunger und Elend in den Unterkünften bekamen wir am deutlichsten die
Verachtung der Einheimischen in der Schule zu spüren, in der wir
ohnehin erbittert um den Anschluß zu kämpfen hatten. Wir
Spät-Vertriebenen hatten immerhin über zwei Jahre lang keinen
Schulunterricht mehr gehabt. Es war einfach für unsere starken
Mitschüler, uns bei jeder Gelegenheit zu erniedrigen und auch zu
schlagen. Wir waren es gewohnt. Doch diesmal waren es die eigenen
Deutschen, die das taten! Ich habe daher nie besonders warmherzige Gefühle zu diesem
Ort entwickeln können, auch nicht, nachdem sich allmählich vor allem
aus meiner Grundschulklasse doch viele Mitschüler als echte Freunde
zeigten. Unter meinem Pult fand ich in der großen Hungerzeit so manches
Mal ein frisches Brötchen, das mir jemand von den Einheimischen
heimlich zugesteckt hatte. Aber manche Wunden verheilen trotzdem nur
schwer, und die Narben bleiben das ganze Leben. Eine Nahrungsbeschaffung aus den umliegenden Dörfern war für
uns Vertriebenen, die wir keinerlei Beziehungen hatten und über keine
Tauschgegenstände verfügten, so gut wie ausgeschlossen. Jede sogenannte
Hamsteraktion oder der geringste Diebstahl von Feldfrüchten wurde
unbarmherzig bestraft. In den Akener amtlichen Bekanntmachungen wurde
damals zum Beispiel u.a. angeordnet: "Bei vollem Verständnis für die
soziale und menschliche Lage kann .. ein Nichteingreifen von
Polizeiorganen mit dieser Begründung nicht mehr hingenommen werden, es
muß vielmehr von allen Polizeikräften erwartet werden, daß sie sich
ohne Rücksicht auf die besondere Eigenart des Einzelfalles einsetzen.."
Und das wurde getan! Für die besondere Lage der vertriebenen Frauen und
Kinder zeigte das neue Regime keinerlei Verständnis. So kam es, daß
einige Mütter von den Vertriebenen wieder hinter Gitter kamen, nur weil
sie für ihre hungernden Kinder ein paar Kartoffeln von den Äckern
reicher Bauern geholt hatten, was als Felddiebstahl - damals fast ein
Verbrechen - angesehen wurde. Auch mein Klassenkamerad Werner Böse aus
Zemmen wurde - obwohl noch minderjährig - mit einer langen
Gefängnisstrafe bestraft, weil er das zum Überleben erforderliche
Brennholz aus dem "Volkseigentum" organisierte, das war ein von den
Russen ohnehin sinnlos gesprengter "Rüstungsbetrieb". Zwölf Jahre waren vergangen. Dann gelang es mir endlich, wieder nach Großtuchen zu kommen. Die Mühen waren enorm. Mehrmals hatten die DDR-Behörden meine Anträge auf eine Reisegenehmigung abgelehnt. Die Polen hatten nichts gegen meinen Besuch. Im November 1958 hatte ich glücklich das Visum zu einer Fahrt nach Großtuchen und Umgebung in der Hand. Es war angeblich die erste private Reise eines Deutschen in dieses Gebiet seit 1945. Auch Die Pommersche Zeitung in Westdeutschland berichtete damals in einem Leitartikel darüber. Die Eindrücke waren gewaltig. Mein Gastgeber war die Familie
Durawa, unser frühere Nachbar von der Obermühle, die damals noch dort
auf ihrem Bauernhof lebte. Ich besuchte die Lebenden und die Toten. In
Großtuchen und Umgebung traf ich noch viele Deutsche an. Bäcker
Borchardt hatte mit zwei Bäckerläden Hochkonjunktur wie nie zuvor.
Seine Backstube war beliebter Treffpunkt der Deutschen. Jeden Tag
trafen wir uns dort. Metel sprach mich auf der Dorfstraße auf
Plattdeutsch an: "Du bist doch der Sohn von Paul..." Ich hatte ihn
wegen seiner Wattejacke und Pelzmütze für einen Ukrainer gehalten.
Gemeinsam besuchten wir den evangelischen Friedhof, und er erzählte mir
von den Toten, die er gekannt hatte, von den letzten Tagen in Großtuchen beim Einmarsch der Russen und von seiner Gefangenschaft in
Sibirien. In Pyaschen und Kleinmassowitz gab es ein Wiedersehen mit
vielen alten Bekannten. "Ich...bin mit meinen Kindern auf der Flucht in Besow / Kreis
Schlawe / Pommern von den Russen überholt worden am 7.3.1945. Alle
deutschen Geflüchteten sowie dort Wohnhafte mußten auf dem Hofe
Aufstellung nehmen, und hier wurde vor unseren Augen der gleichfalls
anwesende, leicht verwundete Volkssturmmann Paul Radde aus Großtuchen
... erschossen von einem russischen Soldaten..........Sein Grab wurde
von mir bis Juli 1947 gepflegt.Seinen Wehrpaß füge ich hier bei. Dieses
erkläre ich an Eides Statt".*) Von den Augenzeugen seines Todes erfuhren wir dann noch, daß der junge Russe sich lange und kategorisch geweigert hatte, den Erschießungsbefehl auszuführen und immer wieder geschrien hatte: "Eto nje nado...Eto dobry tschelowjek..." - Das ist nicht nötig, das ist doch ein Mensch, der uns nichts getan hat. Ich kann ihn nicht töten. - Für seine bolschewistischen Vorgesetzten galt aber: "Wer Deutscher ist, ist auch Faschist. Und jeder Faschist ist ein Verbrecher". Erst als dem Russen selbst die Erschießung wegen Befehlsverweigerung an der Front angedroht wurde, griff er zur Maschinenpistole und schoß. Die zwei einzelnen Schüsse trafen meinen Vater in den Rücken. Er richtete sich danach aber nochmals auf und schritt langsam und aufrecht die Front der aufgestellten entsetzten deutschen Frauen ab, blieb dann stehen und kniete nieder zum Gebet. Der Russe stürzte entsetzt vor, hielt meinem Vater die Maschinenpistole in den Nacken und schoß die ganze Trommel leer mit einem einzigen Feuerstoß. Mein Vater sank zur Seite und starb. Drei Tage mußte er auf dem Hofe liegenbleiben, zur Abschreckung der deutschen Frauen und Kinder... Er war nicht der einzige Großtuchener, der so starb. Gräber von Erschossenen gab es überall, auch bei uns im Dorf. Unsere Nachbarin, die junge hochschwangere Frau Pelz, war erschossen worden, mein alter Großvater in Kleinmassowitz war erschossen worden, mein Onkel aus Louisenhof bei Bütow war erschossen worden, unser Ostarbeiter Lady aus Weißrußland war erschossen worden...Aber auch viele Russengräber hatten wir auf unseren Feldern. Gemeinsam mit Frau Agnes Durawa machten wir uns auf die Suche
nach dem Grab meines Vaters. Nach Angaben der Zeugen seines Todes hatte
ich mir vorher in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin anhand von
Meßtischblättern des Deutschen Reiches für Ostpommern eine genaue
Lageskizze von seinem Grab angefertigt. Bis Zollbrück fuhren wir mit
der Bahn und dann 10 km weiter mit Fahrrädern, die uns fremde Polen
dort sofort liehen, als sie von unserem Vorhaben hörten. Wir fanden
tatsächlich das Dorf und die Grabstätte, die auch ohne Skizze damals
noch zu erkennen war, denn Polen hatten sie jahrelang gepflegt. Bei der Abmeldung auf dem Gemeindeamt in Großtuchen vor
Weihnachten 1958 bat mich der Bürgermeister in sein Amtszimmer. Wieder
die gleichen Fragen und dann sein Angebot: "Ich kenne Deinen Vater noch
gut. Willst Du wiederkommen? Wir geben Dir das Grundstück Deines Vaters
zurück. Du erhältst einen zinslosen Kredit von 100.000 Zloty und kannst
alles wieder aufbauen. Wir wären froh, solche Leute wieder hierher zu
bekommen. Bedingung ist natürlich ... die polnische
Staatsbürgerschaft". Ich erzählte ihm von meinen Absichten, davon, daß
ich bereits in Berlin im Staatsexamen stehe, danach an der Universität
bleiben oder in den Außenhandel gehen möchte und daß ich keinerlei
Perspektiven für einen privaten Landwirt im Sozialismus sehe. Er
bedauerte es und verabschiedete mich sehr herzlich. Ich hörte noch wie
er auf polnisch zu seiner Sekretärin so etwas sagte wie: "Schade
eigentlich. Netter Bursche. Hat es schon weit gebracht, seitdem er in
Großtuchen Kühe hütete und barfuß in die Dorfschule lief....". Groß Tuchen - ein Dorf in Hinterpommern
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