Erika Wenzlaff geb. Pecker Ravelinstraße 14 17389 Anklam
Bericht - Flucht 1945
Es ist natürlich ein unvollständiger Bericht, da nach so vielen Jahren Zusammenhänge und Ortsnamen in Vergessenheit geraten sind und man leider auch nicht mehr zurückfragen kann.
Der Winter 1944 / 45 hatte auch Großtuchens Straßenbild verändert. Lange Trecks aus Ostpreußen zogen an unserem Haus vorbei. Ich sehe meine Mutter noch, warme Getränke verteilen. Und manchmal übernachteten auch Flüchtlinge bei uns. Wahrscheinlich hoffte man immer noch, daß uns dieses Schicksal, auf Wanderschaft zu gehen, erspart bleibt. In schlimmer Erinnerung sind mir noch die Bombenangriffe mit den Toten und Verletzten. Ein Soldat wurde vor dem Geschäft Jordan tödlich verletzt, ein anderer verwundet und im Arbeitszimmer meines Vaters von Frau Maroske versorgt. In unserem Haus waren auch Soldaten einquartiert. Mich hat damals sehr beeindruckt, daß sie vor den Bombenangriffen genauso Angst hatten wie wir. Die Soldaten rieten immer wieder zum Aufbruch. Aber unsere Mutti meinte, bleiben zu müssen. Mein Vater, der ja Soldat war, hatte in einem seiner Briefe geschrieben: "Daß ihr flüchten müßt, halte ich für gänzlich ausgeschlossen."
Dr. Harthun aus Bütow, unser Hausarzt, hatte mit meiner Mutter abgesprochen, für den Fall, daß die Russen kommen, ihr Gift zu geben, weil ein Leben unter den Russen unmöglich sei. An dem verabredeten Tag fuhren dann keine Züge mehr. Dr. Harthun hat sich vergiftet. Eckhardt, der Sohn, ist mit dem Auto davongefahren.
Als dann der Räumungsbefehl kam, wurde ein Leiterwagen mit einem Teppich als Dach versehen und der Wagen mit den nötigsten Sachen beladen. Sogar die Pökeltonne und Futter für die Pferde wurden mitgenommen. Herr Otto Haus, der bei uns arbeitete, lenkte den Wagen. Seine Familie wurde von Soldatenautos mitgenommen.
Hedwig (Nachname leider entfallen), unser Hausmädchen, Anna, eine Ukrainerin mit ihrem kleine Sohn Anton, waren mit auf dem Wagen. Anfang März (1./2. 3.) ging die Fahrt ins Ungewisse los. Bevor wir den Hof verließen, wurden alle Tiere losgebunden und die Stalltüren geöffnet.
In welcher Richtung wir fuhren, weiß ich nicht zu sagen. Wir sollten wohl einen Hafen erreichen, um mit einem Schiff rausgebracht zu werden. Als wir am ersten Abend ein Quartier fanden - das Haus war voller Flüchtlinge - kam Pastor von Beer aus Bütow. Er war mit dem Fahrrad unterwegs und hat es geschafft rauszukommen; hat in den alten Bundesländern Dienst gemacht und ist in der Nähe von München über neunzigjährig verstorben. Pastor von Beer hatte Großtuchen betreut, als mein Vater Soldat war. Er war Baltendeutscher und hatte schon einmal flüchten müssen.
Am nächsten Morgen mußte Gisela geb. Barske, Obermühle, ihr totes Kind (Säugling) begraben unter einer großen Tanne in einem Gutspark.*) Der Treck ging weiter über verstopfte Straßen, teilweise übers Feld, weil die Straßen für das Militär freigehalten werden mußten. Es war ein endloser Zug, der auch immer wieder unter Tieffliegerbeschuß geriet. Wie lange wir unterwegs waren, weiß ich nicht mehr. Wir kamen bis Zackenzin, Kreis Lauenburg. Dort hingen schon weiße Bettlaken an den Häusern. Quartier fanden wir mit Familie Max Schlutt in der Schule. Dann kamen auch schon die Russen mit vorgehaltenen Maschinenpistolen, verlangten "Uhri, Uhri". Es waren unheimliche Gestalten. Der Raum, in dem wir waren, war voller Menschen, Alle hatten große Angst. An unserem Wagen war ein Rad gebrochen. Die Pferde wurden von den Russen gleich mitgenommen. Ein Militärverpflegungswagen war im Ort liegengeblieben. Die Lebensmittel wurden aufgeteilt. Unser Zimmer bekam zwei Säcke Bonbon, die unter dem Bett versteckt und verteilt wurden.
Dann wurde es schlimm. Die nachrückenden Rotarmisten (Mongolen) plünderten, vergewaltigten die Frauen. Es gab keine Ruhe mehr, weder Tag noch Nacht. Ich sehe und höre noch die Frauen weinen und schreien. Wie lange wir dort waren, weiß ich nicht zu sagen. Jedenfalls ging es wieder nach Großtuchen auf sehr beschwerlichem Weg zurück. Herr Schlutt hatte noch Pferd und Wagen und nahm uns mit. Es waren sicher noch mehr Großtuchener dabei. Abwechselnd saßen die Kinder und alten Leute auf dem Wagen, die anderen gingen neben oder hinter dem Wagen her. Der Anblick der Verwüstungen und vielen Toten am Straßenrand war schlimm.
Einmal saß unsere Mutter auf einem Wagen. Da galoppierte ein Soldat mit einem Säbel vorbei und schlug auf das Verdeck dieses Wagens. Er hatte eine Holzlatte getroffen. Unsere Mutter ist unverletzt geblieben. Abends wurde in den oft menschenleeren Orten Quartier gemacht. Es war unheimlich. Irgendwelche Belästigungen gab es immer.
Was auf dieser Rücktour schlimm anzusehen war, waren die vielen zusammengetriebenen Menschen, die von weitem wie Viehherden aussahen. Wenn man näher herankam, erkannte man die vielen Männer, die unter Bewachung der Soldaten abgeführt wurden.
*) Die "Beerdigung" des Säuglings erfolgte am 3. 3. 1945 am frühen Vormittag im Park des Gutsschlosses von Puttkammer im Ort Nippoglense, Kreis Stolp (jetzt: Nie-podgl"dzie, pow. S»upsk). Herr Barske, unser Nachbar von der Obermühle Großtuchen, bat mich damals, ihm be-hilflich zu sein, das Grab zu schaufeln; denn der Boden war stark gefroren. Er sagte: "Hier unter der Tanne an der Mauer werden wir es später am ehesten wiederfinden." Es war eine der ersten Tannen im Schloßpark rechts, wenn man von Bütow aus ins Dorf hineinkommt. [Anm. von Karl H. Radde].
Wir müssen über Moddrow oder Klein-Tuchen wieder zurückgekommen sein. Auf einem Abbau nahmen uns die Besitzer auf und versorgten uns. In besonderer Erinnerung ist mir der Wabenhonig geblieben. Nachdem einige die Lage in Großtuchen erkundschaftet hatten, gingen wir alle zurück. Unser Haus war ziemlich verwüstet, es waren kaum noch Möbel vorhan-den, überall lag Stroh verteilt. Bei Fleischer Möller fanden wir Unterkunft. Möllers mußten für die Russen schlachten. Es wurde auch für alle Hausbewohner gekocht, wobei jeder mithalf. Dort ging es uns in jeder Weise gut. Auch deshalb, weil das Haus bewacht wurde. So hatten wir auch vor Übergriffen Ruhe. Abends kamen die Frauen, um bei uns zu übernachten. Wir Kinder hatten in einem Schuppen einige Kaffeemühlen montiert und drehten Korn zu Mehl durch. So konnte auch immer eine Suppe gekocht werden.
Während dieser Zeit kam es auch zu zwei Bränden im Ort. Einmal in den Stallgebäuden (?), wo die russischen Kriegsgefangenen untergebracht waren, bei Meinkes / Holz und in der Apotheke. Danach wurden die Deutschen zur Kommandantur (Post Kolberg) bestellt mit Schippe und Spaten; sie sollten sich ihr Grab schaufeln und erschossen werden. Irgend je-mand hatte Pfarrer Hinz benachrichtigt. Er verhandelte mit den Soldaten, und man ließ uns wieder laufen.
Nachdem die Polen Großtuchen übernahmen, wurden Möllers aus dem Haus ausgewiesen. Wir fanden in einem kleinen Zimmer bei Frau Gramit eine Unterkunft. Unsere Mutter wurde nun auch zur Arbeit eingeteilt. Sie mußte unter anderem bei den Drei-Brücken Steine aus dem Wasser holen. Wir bekamen auch eine lahme Kuh, die wir hüten oder für die wir für den Sonntag Futter holen mußten. So hatten wir Milch. Gebuttert wurde in einer Milchkanne durch Schütteln. Etwas Butter wurde verkauft im Deubleschen Geschäft. Von dem Geld wurde z.B. Salz gekauft und für die Ausreise gespart. Wir Kinder hatten auch unsere Aufgaben. Wir mußten auch für den täglichen Lebensunterhalt sorgen und haben Holz gesammelt (beim Bahnhof haben wir Borke geholt), Beeren gesucht, Kartoffeln aus unserem Keller geholt. Aus alten Sachen wurden Taschen genäht und Rucksäcke für die nächste Flucht. Pullover und Socken wurden gestrickt.
Abends klopfte es wiederholt ans Fenster. Einmal war es eine Frau mit ihrer Tochter, die um ein Nachtlager bat. Sie mußte auf der Flucht ihren kranken Sohn in einem Krankenhaus zurücklassen. Den wollte sie jetzt suchen. Viel später haben wir gehört, daß sie ihn gefunden hat und mitnehmen konnte. Aber auch geistig verwirrte Leute klopften.
Von Herrn Lehrer Mauß wurde in der evangelischen Kirche ein Gottesdienst gehalten. Ich habe einen sehr gut besuchten Gottesdienst, eine volle Kirche in Erinnerung. An der Tür standen polnische Soldaten. Die Predigt mußte Herr Mauß der polnischen Kommandantur vorher schriftlich vorlegen. Nach dem Gottesdienst kam es zur Verhaftung von Herrn Mauß. Erst war er im Gefängnis in Bütow. Später mußte er bei einem polnischen Bauern auf dem Hof arbeiten (in Richtung Radensfelde auf einem Abbau).
Schlimm waren auch die vielen Typhuserkrankungen und Todesfälle. Herr Mauß hat auch die Beerdigungsandachten gehalten. Später hat es meine Mutter übernommen, was ihr sehr schwer wurde.
Anfang Dezember haben wir Großtuchen ein zweites Mal verlassen. Viele waren schon vor uns gegangen. Wir warteten auf die Freilassung von Herrn Mauß, weil er meine Mutter gebeten hatte, auf ihn zu warten. Mit dem Pferdegespann von Pfarrer Hinz wurden wird nach Bütow gebracht. (Ich nehme an , Herr Metel hat uns gefahren.)
Der Bahnhof war voller Menschen. Weil wir vier Kinder waren, kamen wir mit dem Transport, in Viehwaggons, mit. Der Wagen war überfüllt. Man saß auf seiner Tasche oder auf seinem Rucksack am Boden. Es war kalt. Wir waren Tage und Nächte unterwegs, standen oft auf freier Strecke. Dann ging unsere Mutter zur Lokomotive und holte ein bißchen warmes Wasser, unsere einzige warme Nahrung. Es wurde geplündert. Die Menschen starben und wurden bei einem Halt neben die Gleise gelegt.
Den Arnswalder Wasserturm und die Scheuner Zuckerfabrik habe ich in schlechter Erinnerung. Birgit Mauß, damals etwa 1 ¼ Jahr alt, waren die Füße erfroren. Scheune war ein sehr berüchtigter Ort. Da wurde man den Rest der Sachen noch los. Und überall auf dem Bahnsteig lagen die Toten.
Von hier ging es mit einem Zug von Löcknitz nach Scheiben. Hier fanden wir in einer Küche ein Quartier. Herr Mauß nahm Kontakt zur Schulbehörde auf und bekam die Lehrerstelle in Grünz bei Penkun. Weihnachten waren wir in Penkun, bei Bekannten von Maußens. Inzwischen waren wir auch verlaust, hatten Krätze und Geschwüre. Als alle Versuche, die Läuse loszuwerden, gescheitert waren, wurden die Haare abgeschnitten. Das fand ich besonders schlimm. Ich bin lange nur mit einer Mütze rumgelaufen. In der Schule wurde man natürlich auch noch gehänselt. Weihnachten bekamen wir ein Weizenbrot geschenkt. Es ist noch kein Weihnachtsfest vergangen, an dem ich nicht an dieses kostbare Geschenk gedacht habe.
In Grünz nahm Herr Mauß wieder den Schuldienst auf, und wir gingen in die Schule. Geschrieben wurde auf Zeitungspapier oder Buchrändern. Strom gab es nicht. Man saß abends vor dem offenen Ofen. In der Schule fanden die sonntäglichen Gottesdienste statt. Hier trafen wir Pastor Tetzlaff, der in Großtuchen Vikar war. Von ihm erfuhren wir die Anschrift des Konsistoriums in Greifswald. Dort meldeten wir uns und erfuhren sehr bald, daß unser Vater und Bruder Heini lebten. Unser Vater hatte ganz in der Nähe eine Pfarrstelle. Als er unsere Anschrift erfuhr, kam er zu Fuß zu uns.
Mein Vater übernahm die Pfarrstelle in Sommersdorf und holte uns dort hin. Maußens rüsteten, nachdem sich Frau Mauß von der Typhuserkrankung erholt hatte, zur Weiterreise nach Württemberg. Der Anfang war natürlich sehr schwer. Die Küche teilten sich drei Familien. Ich kann mich aber nicht erinnern, daß es mal Ärger gegeben hätte, oder einer dem anderen etwas weggenommen hätte. Wenn unsere Sachen gewaschen werden mußten, konnten wir nicht zur Schule gehen, wenn sie bis dahin nicht trocken waren.
Der Neuanfang war natürlich sehr schwer; besonders für unsere Eltern. Es fehlte ja buchstäblich alles. Der Besen wurde in der Nachbarschaft geborgt. Das Geld war knapp. Es wurde nur ein Teil des Gehaltes gezahlt. Zu Hause hatte meine Mutter kein Geld mehr von der Kasse bekommen, weil es alle war. Lebensmittel gab es auf Zuteilung und nach Schlangestehen. Es wurde alles genau eingeteilt, wobei wir oft noch Hunger hatten.
Alles, was man an Eßbarem sammeln konnte, wurde gesammelt. Schade, daß man die Rezepte nicht mehr weiß. Kartoffelpuffer wurden mit etwas Salz auf der Herdplatte gebacken. Suppe wurde aus Wasser, Mehl und Majoran gekocht, und Kuchen aus Kaffeeschrot gebacken. Große Mengen Sirup wurden im Herbst gekocht.
Es kamen dann auch sehr bald Leute aus der Stadt, um ihre Sachen, oft wertvolle Gegenstände, gegen Lebensmitteln zu tauschen. Und wenn sie dann den langen Weg zum Bahnhof hinter sich hatten, wurden ihnen dort alles abgenommen. Diese Art von Handel war auch verboten.
Es war eine schlimme Zeit, die wir durchzumachen hatten. Aber ich denke, wir haben auch immer wieder die Erfahrung machen dürfen, daß wir bewahrt worden sind, wofür wir auch zu danken haben.
Geschrieben von Siegfried, Martin, Erika und Margarete Pecker.