von Karl Heinz Radde, Dresden, 1996
(Text without pictures in English)
"Denn der Herr, dein Gott, wird dich in eine gute Gegend bringen"
(aus dem Talmud)
Über diese Begebenheit aus meiner Kindheit habe ich nie gesprochen. Sie war für mich zu unbedeutend. Was wir damals im Herbst 1944 getan haben, hätte jeder andere aus unserem Dorf ebenso getan...
Ich weiß es genau, es war der 14. Oktober 1944. Der Rundfunk hatte von
schweren Stellungskämpfen um Aachen und Durchbruchsversuchen der Russen
bei Warschau und Memel, aber auch von der Vl berichtet, unter deren
Feuer London lag, und in der Zeitung für Ostpommern war vom
Staatsbegräbnis unseres großen Generalfeldmarschalls Rommel zu lesen.
Alles das war alarmierend, aber auf unserem abgelegenen Bauernhof in
Ostpommern im Kreis Bütow direkt an der Grenze zu Westpreußen hatten
wir ganz andere Sorgen. Die Kartoffelernte mußte eingebracht werden.
Die ganze Familie war auf dem Feld im Einsatz, um die letzten sonnigen
Herbsttage auszunutzen.
Ich war erst zehn, für schwere Feldarbeiten noch ungeeignet und
hatte wie gewöhnlich Aufsicht bei den Tieren und versorgte die Kühe.
Plötzlich erschien eine seltsame Gestalt an der Stalltür. Der Anblick
eines Mannes in einem schäbigen abgetragenen Anzug, unrasiert und in
gebückter Haltung erschreckte mich sehr. Seine rechte Hand zitterte
stark. Ich hielt ihn für einen Vorboten des Weltunterganges, von dem
meine Oma behauptete, er stehe kurz bevor, wenn der Krieg so
weitergehe. Wir musterten uns eine Zeitlang schweigend; dann fragte er
mit mühsamer Stimme nach meinem Vater. Ich sagte, daß alle auf dem Feld
wären, sehr weit weg, er aber meine Mutter in der Küche antreffen
würde. Er beharrte jedoch darauf, unbedingt meinen Vater selbst zu
sprechen und bat mich, ihn zu ihm zu führen. Wir machten uns schweigend
auf den Weg. Unterwegs beobachtete ich den Fremden verstohlen von der
Seite. Er sah erbärmlich aus, das Gehen viel ihm offensichtlich schwer,
und starken Husten hatte er auch. Wir blieben immer wieder mal stehen.
Mit Mühe erreichten wir das Ziel. Ich zeigte auf meinen Vater. Der
Fremde ging schnell auf ihn zu und sagte ein paar kurze Sätze. Mein
Vater gab ihm die Hand und führte ihn abseits.
Von großer Neugier getrieben, etwas Näheres über diesen unheimlichen
Besuch zu erfahren, hielt ich mich in der Nähe auf und versuchte, das
Gespräch mitzubekommen. Es war für mich ziemlich unverständlich. Mit
den einzelnen Sätzen und Wörtern, die ich auffing, konnte ich absolut
nichts anfangen: "Sonderlager, Stutthof, Flucht, Kapo, Schulfreund,
Rosen ......."
Sie sprachen sehr lange und nur halblaut. Mein Vater, sonst immer zu
Späßen aufgelegt, war sehr ernst geworden. Er sagte schließlich zu dem
Fremden: "Sie bleiben jedenfalls erst mal hier bei uns, ruhen sich aus,
und dann werden wir weitersehen..."
Der Fremde nahm einen Ehrenplatz ein
Abends saßen wir alle am großen Eßtisch im Wohnzimmer, zusammen mit unseren Ostarbeitem. So war es üblich bei uns, auch nachdem der Ortsbauernführer vor kurzem unvorhergesehen aufgetaucht war und verlangt hatte, die Tischordnung zu ändern. Ostarbeiter gehörten in den Stall. Mein Vater warf ihn kurzerhand hinaus. So böse hatte ich meinen Vater noch nie gesehen. Noch bestimme er, wer auf seinem Hof Ostarbeiter ist oder nicht. Der Fremde hatte unter uns den Ehrenplatz eingenommen, wie es sich für einen Gast gehörte. Meine Mutter war sichtlich erfreut über den erstaunlichen Appetit des Besuchers und seine anerkennenden Worte über ihre Kochkunst und forderte ihn immer wieder zum Essen auf. Ich konnte nicht begreifen, was an dieser Haferflockensuppe und den Bratkartoffeln, die es bei uns fast jeden Abend gab, so lobenswert war. Meine Mutter führte die Unterhaltung, stellte immer wieder Fragen an den Gast und übersah dabei taktvoll, daß er seine Suppe verschüttete, denn seine Hand zitterte stark, wenn er den Löffel zum Mund führte. Wo er denn sein Handleiden her habe, fragte sie. Mein Vater unterbrach verstimmt. Das gehöre nicht hierher. Aber der Fremde erzählte bereitwillig, daß er aus der Gegend von Posen stamme, im Weltkrieg Bordmechaniker in einem Flugzeug und schließlich abgestürzt war und sich einen Nervenschock geholt hätte, und seitdem habe er das Leiden. Vater schwieg finster dazu. Ich fand den Fremden jetzt ungeheuer interessant und wich nicht von seiner Seite. Nach dem Abendessen kam Warka, unser Hausmädchen, eine ukrainische Ostarbeiterin, plötzlich verängstigt in das Wohnzimmer gerannt. "Ich weiß nicht, was sagen diese Mensch", rief sie in ihrem holprigen Deutsch. Wir liefen in die Wohnküche, in der man für den Gast eine Schlafecke in der Nähe des warmen Herdes eingerichtet hatte, denn er war wirklich sehr erkältet. Er kniete auf seinem Lager, hatte die Hände gehoben und redete in einer sonderbaren Sprache, die ich noch nie gehört hatte. "Er betet", erklärte uns meine Mutter leise und andachtsvoll, und zur Ukrainerin gewandt, die das Wort offensichtlich nicht verstand, "er spricht mit Gott" und wies uns alle strengstens an, ihn ja nicht zu stören. Ich schlich aber immer wieder an die Tür und beobachtete ihn heimlich. Das wiederholte sich Abend für Abend. Noch nie hatte ich jemanden so inbrünstig beten hören, nicht einmal meine Oma.
Ich versuchte herausfinden, was unser Gast Gott so Wichtiges
mitzuteilen hatte, verstand aber seine Sprache nicht. Manchmal klang
sie fast wie Deutsch, zumindestens wie Plattdeutsch. Ich merkte nur,
daß es nicht die polnische, russische oder ukrainische Sprache war, in
der unser Gast mit Gott redete, denn diese Sprachen hatte ich oft bei
uns gehört und war an ihren Klang gewöhnt. Der Fremde versuchte, sich
nützlich zu machen, wo er konnte. Er half mir im Stall, kam mit uns auf
das Kartoffelfeld und arbeitete überall mit, so schwer es ihm auch
fiel. Ich hörte mehrmals, wie mein Vater sagte, er solle sich doch
schonen und erst mal wieder auf die Beine kommen. Arbeiten könne er
immer noch.
Die gute Gegend war im Westpreussischen
Eine Woche lang dauerte der Besuch. Dann rief mich mein Vater plötzlich und erteilte mir einen Auftrag, auf den ich sehr stolz war, denn schließlich war ich gerade in das Jungvolk der Hitlerjugend aufgenommen worden und wurde endlich ernst genommen. Ich sollte unseren Gast am Abend zu einem bestimmten Forsthaus bringen, das ziemlich weit im Westpreußischen lag Ich kannte es aber gut und die Waldwege dorthin auch. Mein Vater hatte mich mehrmals auf seinen sonntäglichen Kutschfahrten durch die Wälder dorthin mitgenommen, und im Sommer waren wir Jungen auf unseren abenteuerlichen Streifzügen bis dorthin vorgedrungen, weil sich dort in der Nähe ein sagenhafter See befand. Außerdem hatten wir in dieser Gegend erst vor kurzem von der Schule aus eine großangelegte Suchaktion durchführen müssen. Angeblich sollten englische Flugzeuge Versorgungsgüter und Waffen über diesem Waldgebiet abgeworfen haben, in dem polnische Partisanen von der Tucheler Heide aus ihr Unwesen trieben, tuschelte man.
Am frühen Abend machten wir uns heimlich auf den Weg. Nur mein Vater begleitete uns ein Stück. Dann reichte er dem Fremden plötzlich die Hand und sagte: "Der Junge wird sie weiter führen. In zwei bis drei Stunden sind Sie in Sicherheit. Dort sind sie in einer guten Gegend, und Ihnen kann nichts mehr passieren". Die Männer hielten sich lange die Hand. "Gott schütze Dich vor allem Übel dieser Welt", sagte unser Gast schließlich und umarmte meinen Vater. "Friede sei mit Dir. Du wirst leben. Gott wird dich bewahren vom Tode..."
Wir liefen eilig bei der einbrechenden Dunkelheit, an kleinen mit
Stroh bedeckten Bauernhäusern vorbei und immer weiter auf Waldwegen.
Der Gast war jetzt nicht so schweigsam wie bei unserem ersten Gang vor
einer Woche, er hustete auch nicht mehr, und das Laufen fiel ihm
leichter. Er sprach viel über Gott, in seltsamen Sätzen, die ich noch
nie gehört hatte. "Der Heilige, gelobt sei er", sagte er stets, wenn er
Gott meinte
Und er lobte meine Eltern über alle Maßen, die in großer Not geholfen
hätten. Er erklärte mir, daß die Welt auf drei Dingen beruhe, auf
Recht, Treue und auf Frieden und daß meine Eltern echte Nächstenliebe
bewiesen hätten und dafür von Gott belohnt werden würden. "Denn
Wohltätigkeit rettet sogar vor dem Tode", lehrte er mich. Ich fand das
alles sehr interessant und gerecht, aber auch ein wenig übertrieben,
was meine Eltern betraf, freute mich aber dennoch über die schönen
Worte, und sah den verheißenen Belohnungen mit gewisser Erwartung
entgegen. Dann trennten wir uns...
Unerfüllte Segnungen
Zu Hause sprach mein Vater lange unter vier Augen mit mir und
beschwor mich geradezu, ja alles zu vergessen, was mit unserem fremden
Besuch zusammenhing. "Das war nämlich ein Jude", sagte er
geheimnisvoll. Niemand hatte bisher den Namen Jude ausgesprochen. Es
wäre auch ohne Bedeutung gewesen. Er war in unserer ländlichen
Abgeschiedenheit in Ostpommern ein wertfreier Begriff. Es gab im Dorf,
so erzählte meine Mutter oftmals, nur einen Juden, den Gastwirt Rosen,
der leider 1938, ohne sich zu verabschieden, einfach fortgezogen wäre.
Er hätte zu den geachtetsten Bürgern gehört, war stets freundlich und
hilfsbereit, und wenn ein Bauer in große Geldschwierigkeiten gekommen
war und niemand mehr helfen wollte, der jüdische Gastwirt half immer,
fand immer noch einen Ausweg und gewährte Kredit, ohne nach
Sicherheiten zu fragen. Zwar hatten viele Dorfbewohner den
Goebbel'schen Propagandafilm "Der Ewige Jude" gesehen, in dem ein Jude
als Verkörperung allen Unheils und Verhängnisvollen dargestellt wurde,
und einige waren sogar beeindruckt. Aber der Film war Mythos, etwas
Fremdes, der jüdische Gastwirt im Dorf dagegen Realität, einer vom
Dorf. Welcher Bauer glaubt schon an Mythen? Nur die Wirklichkeit zählt
für ihn.
Als einmal von auswärts aufgehetzte halbstarke Hitlerjungen den Juden mit Steinen beworfen hatten, waren alle empört. Der Pastor nahm das zum Anlaß, wieder mal eine kritische Predigt zu halten und selbst der Ortsbauernführer fand, daß die Jungen nicht gerade eine Heldentat vollbracht hatten und setzte sich dafür ein, daß sich so etwas in seinem Dorf nicht wiederholt. Mein Vater war um diese Zeit aus der SA ausgetreten, der er einmal stolz angehört hatte, als sie es im Dorf als ihre Hauptaufgabe ansah, Ordnung in dem unruhigen Grenzgebiet zu Polen zu schaffen, Sümpfe trockenzulegen und Arbeit für alle zu organisieren. Er erzählte uns später immer, er sei ausgetreten, weil er zuviel Arbeit auf unserem Hofe und mit uns Kindern hätte und nicht mehr die ständigen Versammlungen im entfernten Dorf besuchen konnte. Diese Begründung wurde allgemein akzeptiert. Außerdem war die SA nach dem Röhm-Putsch ohnehin nicht mehr sehr gefragt. Erst nach dem Krieg erfuhren wir, daß der wirkliche Grund die beginnenden Judenverfolgungen waren, an denen mein Vater sich unmöglich beteiligen konnte.
Die prophetischen Segnungen unseres Juden erfüllten sich nicht.
Monate später sollte unsere friedvolle Waldgegend die apokalyptische
Endphase des Krieges mit seinem ganzen Inferno erleben .....
Zwölf Jahre später
Zwölf Jahre waren vergangen, dann gelang es mir endlich wieder in
meine alte Heimat zu kommen. Ich besuchte die Lebenden und die Toten.
Mein besonderes Anliegen war, das Grab meines Vaters, der im März 1945
von den Russen erschossen worden war, ausfindig zu machen. Mit Hilfe
von polnischen Freunden fanden wir tatsächlich die Grabstätte. Die
Polen hatten sie jahrelang gepflegt.
Ich lernte damals auch einen älteren Polen aus Konitz kennen, der früher in unserer Gegend als Partisan in den Wäldern lebte. Er erzählte viele bewegende Erlebnisse aus seiner Partisanenzeit, wie Russen, Polen, desertierte Deutsche sich den Partisanen angeschlossen hatten. Einmal war sogar ein Jude zu ihnen gestoßen, der aus dem KZ Stutthof geflohen war und sich dabei die Hand schwer verletzt hatte. Die Polen konnten ihn retten. Er wäre später nach England gegangen. Ich schwieg dazu. Ich wußte sofort daß das "unser Jude" war und auch ich an seiner Rettung Anteil hatte. Dennoch: Über diese Begebenheit aus meiner Kindheit habe ich nie gesprochen. Sie war für mich zu unbedeutend. Was wir damals im Herbst 1944 getan haben, hätte jeder andere aus unserem Dorf ebenso getan ...
Juden in Groß Tuchen