Die täglich bewältige Strecke betrug etwa 15 bis höchstens 20 km. Es gab keinerlei Verkehrsschilder, -zeichen oder Ortsschilder, die schon im Herbst von der Wehrmacht abgenommen worden waren, um Spionen und Deserteuren keine Orientierung zu ermöglichen. Nur unsere Oma sagte uns immer, was das für ein Dorf ist, sie kannte buchstäblich jedes Dorf und jeden Weg. Im Schloß Mickrow war sie als junges Mädchen mal bei den Adligen angestellt, daher.
Die Trecks wurden von Wehrmacht oder SS dirigiert. Es durften keine
Hauptstraßen befahren werden, die ausschließlich für die Bewegungen der
Wehrmachtsfahrzeuge vorbehalten waren. Die Hauptstraßen lagen immer im
Beschuß der russischen Tiefflieger die speziell auch Flüchtlingswagen
angriffen, da sie von dort kein Abwehrfeuer erhielten und die
zusammengeschossenen Flüchtlingswagen bildeten auf den engen Straßen
geradezu ideale Panzersperren, so daß die Wehrmachtsfahrzeuge nicht
mehr durchkamen.
Rette
sich, wer kann
Als wir dennoch einmal die jetzige E28 von Karlshöhe bis vor
Lauenburg (am 8. März) benutzen mußten, bot sich uns ein erschreckendes
Bild, und wir wussten nun, dass das Ende da ist. Wir brauchten über
eine Stunde, um von der Nebenstraße auf die Hauptstraße zu kommen und
dort eine Lücke zu finden. Ich erinnere mich noch: Eine wilde Flucht in
Richtung Lauenburg. Die Militärfahrzeuge führen in rasender
Geschwindigkeit in Doppelreihe. Dazwischen Treckwagen. Es war alles
tiefverschneit. Die Fahrbahn war aber schneefrei (wahrscheinlich durch
Einsatz von Schneeräumtrupps und Schneepflügen), aber stark vereist.
Auf der rechten Seite (Pogorzelice?) vor einem Gutshof war ein
Panzerbataillon angetreten (mindestens 500 Mann in schwarzen
Panzeruniformen zählte ich), der Kommandeur hielt eine Ansprache vor 3
Särgen, wahrscheinlich Opfer der ständig angreifenden Tiefflieger...
Außer mir achtete niemand darauf. Nur fort, fort.... Alles war
furchtbar apathisch, vor allem auch das Militär, keine Befehle, keine
Ordnung, nur rette sich, wer kann.
Feuergürtel
Als wir am 9. März kurz vor Dunkelheit in das Dorf Bresin kamen,
feuerte ein MG-Nest auf einem Feld etwa 100 m von der Straße
ununterbrochen aus einem schweren MG. Irgend jemand rief den Soldaten
zu, was das zu bedeuten hätte. Einer von den beiden winkte uns mit
einer Schnapsflasche in der Hand zu: "Keine Angst, Leute, wird üben
nur....". Man war beruhigt. Ich aber sagte: "Sie üben mit scharfer
Munition, das darf doch gar nicht sein, und wozu jetzt noch üben...."
Aber Oma: "Ach das verstehst du nicht, da bist zu klein." Wie sich
herausstellte, war ich der Einzige, der die Lage richtig erfasst hatte:
Man legte bereits den berühmten Feuergürtel (ununterbrochenes zielloses
Abschießen von MG-Munition in einem Bereich, so dass Infanterie und
Pferde nicht durchkommen, nur Panzer). Die Russen standen also schon 2
km hinter uns, sie kamen in Massen mit Pferden, daher war der
Feuergürtel militärisch sinnvoll. Die am anderen Tag durchbrechenden 3
Panzer wurden von unseren letzten drei Soldaten abgeschossen (ein Mann
= ein TU 34 bzw. Sherman), die uns auch rieten, nicht mehr weiter zu
ziehen. Zu spät. Ihr werdet vernichtet, die Russen schießen auf alles,
was sich bewegt... Die 3 Panzer vor Bresin brannten immer noch, als wir
am 11.3. vormittags auf dem Rückweg an ihnen vorbeizogen, was mich zu
der erstaunlichen Erkenntnis brachte: Eisen brennt.... Ich habe es
lange geglaubt.
Am 10. März 1945 holten uns die Russen in Bresin ein.
Dazu hier
nichts, später mehr.
Rückweg
Der Rückweg wurde ausschließlich von Oma und Josef
Durawa, die jeden Weg kannten,
bestimmt. Unser Prinzip war:
- Hauptstrecken soweit wie möglich meiden, möglichst Nebenstraßen
befahren.
- Nach unseren schrecklichen Erfahrung vom 11. 3. im brennenden
Lauenburg: auf keinen Fall durch Bütow fahren. In Lauenburg sollte u.a.
unser Jüngster (Heinz, 3 Jahre) vor den Augen seiner Mutter erschossen
werden. Im letzten Moment kam es nicht dazu.
Wir glaubten, in Bütow
wäre es ebenso.
Das erwies sich als ein Irrtum. Bütow war an dem Tag völlig russenfrei.
Da Oma aus Gustkow stammte, führte sie uns von Pomeiske über Waldwege.
Eines hatten sie aber nicht berücksichtigt: Nach dem vielen Schnee
setzte gerade Tauwetter ein, die Wege waren total verschlammt, durch
Panzer und schwere Militärfahrzeuge aufgewühlt. Unsere schwachen
Pferdchen schafften es nicht, unsere schweren Wagen zu ziehen, wir
kamen mit mehr Ladung nach Hause als wir abgefahren waren (1 Zentner
Zucker!). Wir brauchten manchmal stundenlang, um von der Stelle zu
kommen. In den Dörfern keine Menschenseele, ... nur ab und zu Leichen.
Verrecken sollt ihr!
Auf der Strecke von Pomeiske bis Damerkow haben wir keinen Menschen
angetroffen. Dort am Bahnwärterhäuschen plötzlich ein Russe mit langem
Gewehr, der Pelzens Wagen, den kleineren, ein ganze Stunde durchsuchte,
unseren großen aber überhaupt nicht anschaute, - komisch geht es im
Krieg zu und unberechenbar ...
Wir waren bloß noch mit Pelzens zusammen. Bei einer Milizkontrolle in
Pomeiske durften Durawas als Kaschuben weiterfahren, wir aber nicht.
Wir wurden auf einen Sammelplatz dirigiert und durchsucht. Dort mußten
wir die Nacht verbringen. Aber: zum ersten Mal völlig unbehelligt von
Russen. Die Polen nahmen niemanden etwas ab, obwohl wir noch Wertsachen
hatten. Ich glaube auch, sie hielten uns die Nacht fest, weil sie uns
vor den Russen schützen wollten. Diese Wirkung hatte das jedenfalls ...
Auch das sollte man berücksichtigen....
Noch eine Episode: Vor Pomeiske steckte wir wieder mal mit unseren
großen Wagen einen halben Meter im Schlamm und kamen nicht vorwärts und
nicht zurück. Dann half nur zupacken... Aber die Frauen und wir Kinder
schafften es nicht... Von Bütow aus kam uns eine Gruppe Männer
entgegen, die alle die Trikolore trugen, also befreite französische
Kriegsgefangene waren. Oma bat den Anführer, einen baumlangen Kerl, uns
zu helfen. In perfektem Deutsch brüllte er: "Das könnte Euch so passen;
verrecken sollt ihr Deutschen!". Keiner half den Frauen und Kindern.
Eigentliche
Helden
Am 2. Tag auf dem Rückweg hatten wir hinter Lauenburg folgendes
erlebt:
Die enge Straße war total vereist. Unsere Pferde rutschten aus. Unser
Wagen schleuderte und stand quer über der Fahrbahn. Wir bemühten uns an
den hinteren Rädern, den Wagen herumzusetzen auf dem Eis. Völlig
vergeblich, zu schwer. Von vorn kam eine russische Panzerkolonne, in
ziemlicher Fahrt und mit geschlossenen Luken (d.h. man erwartet
Feindberührung, ist auf dem Weg an die Front, sonst muß man die Luken
schon wegen Sauerstoff offen halten). Wir denken, jetzt walzen sie uns
nieder. Die Kolonne stoppt, wartet. Wir bemühen uns weiter, vergeblich.
Nach einer Zeit geht im 3. Panzer (ist gewöhnlich der Panzer des
Kommandeurs) die Luke hoch, ebenso im 1. Der Soldat im 3. Panzer brüllt
seine Leute im ersten an, was los wäre. Sie zeigen nur auf uns. Da
springen 2 junge Kerle aus dem 3. Panzer, laufen zu unserem Wagen,
jeder fasst ein Hinterrad, und sie setzen unseren Wagen zur Seite. Ehe
wir uns von unserem Erstaunen erholen, sind die Burschen schon wieder
im Panzer, die Luken gehen zu, und ab geht die Fahrt, bei ihnen.... und
bei uns.
Das hat es auch gegeben!! Die Russen hätten uns einfach rammen können,
dann wären sie auch durchgekommen ...
Für mich sind das die eigentlichen Helden. Leider sieht man immer nur
die schwarze Seite....
Aber alles das und anderes in meinem Bericht, der eigentlich ein ganzes Buch werden soll .... (hr)